Selbst – Ich – und die Konzepte drum herum – ein verwirrendes Begriffs-Chaos
Selbst – ein Begriff aus dem psychoanalytischen Vokabular wird weitgehend davon losgelöst in vermehrt unterschiedlichen Kontexten verwendet. Im ursprünglichen psychoanalytischen Sinne hat (hier äußerst grob gesprochen) man das Selbst vom Ich insofern unterschieden, als es eine Erweiterung des Ichs – also damit auch einer Ich-Identität darstellt. Diese kann erst durch mehrere wesentliche Entwicklungsschritte erreicht werden.
Das Selbst ist also ein Produkt unserer eigenen (möglichst gut gelungenen) Entwicklung zu einer stabilen Persönlichkeit. Dieses ideale Selbst, als Weiterentwicklung eines eher wenig entwickelten Selbstkonzepts, ist ein wichtiger Schritt im Sinne einer Anpassung an einen gesellschaftlichen Norm-Rahmen.
Aber was ich nun das Ich?
Aus psychoanalytischer Sicht entwickelt sich ein stabiles Ich in einem ständigen „Abschleif-Prozess“ aus einem infantilen ES, das nur die eigenen Bedürfnisse im Fokus hat. Das ES stellt ein unreifes, infantiles Identitätskonzept dar, das noch nicht bereit ist, sich gewissen gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Erst wenn dieses ES bei der Entwicklung zum ICH gelernt hat, auch gewisse gesellschaftliche Normen und Regeln des Zusammenlebens zu akzeptieren und verinnerlichen, gewinnt die Persönlichkeit „Reife“. Diese „reife“ Persönlichkeit entwickelt sich dann zu einem stabilen ICH, indem es die Werte eines ÜBER ICH (als Repräsentation einer Gesellschaft) ins eigene Wertesystem einbaut. Soweit so komplex und verwirrend – mit diesen Theorien wurden in den letzten 100 Jahren viele Werke mit Bestätigung, Weiterentwicklung und Widerlegungen gefüllt.
Im Rahmen dieses psychoanalytischen Basis-Modells der Persönlichkeitsentwicklung wurden von Freud auch diverse Formen von Narzissmustheorien aufgestellt. Auch diese wurden von späteren WissenschaftlerInnen aufgegriffen und weiterentwickelt. Eine der Grundlagen dieser Theorien der Persönlichkeitsentwicklung zielt darauf ab, dass eine reife Persönlichkeit auch gelernt hat, andere zu „lieben“ – also nicht nur in einer narzisstischen Selbstliebe festzustecken.
Wie sieht dieses Grundprinzip nun aber aus – ist es festgeschrieben oder ist es wandelbar? Natürlich ist es insofern veränderlich, als das, was „normal“ ist immer im Kontext von sich wandelnden Normen definiert wird.
„Reife Persönlichkeit“ im Zeitalter des kollektiven Narzissmus?
Das, was seinerzeit zur Zeit der Entstehung der Psychoanalyse Gültigkeit hatte, unterscheidet sich stark von unseren heutigen Normen und Werten. Gerade das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert war eine Zeit massiver gesellschaftlicher Wandlungen. So gibt es auch Vieles an Kritik an den psychoanalytischen Grundannahmen, da diese weitgehend auf einer Sicht der damaligen gesellschaftlichen Werte beruhen. Wesentlich ist dabei auch, dass Freud ein sehr konservativ-bürgerliches Geschlechterrollen-Bild dieser Zeit ebenfalls verinnerlicht hatte. Daher beruhen seine Theorien auch weitgehend auf diesem Bild gesellschaftlicher Moral seiner Zeit.
Sie spiegeln den Geist einer Zeit, in der Narzissmus in einem völlig anderen Gewand auftritt als heute. Auch wenn Freud nicht immer dezidiert von männlichem oder weiblichem Narzissmus spricht, vorrangig beim „primären Narzissmus“, so gibt es auch hier schon besondere geschlechtsspezifische Ausprägungen.
Blicken wir auf die Gegenwart im Zusammenhang mit Narzissmus, so müssen wir feststellen: Narzissmus ist zu einem ganz allgemeinen gesellschaftlichen Phänomen geworden. Unabhängig ob Mann oder Frau – gesellschaftliche Narzissmus-Phänomene begegnen uns immer und überall.
So gesehen sind heute bestimmte Formen von narzisstischem Verhalten Alltagsphänomene und zT. auch ein Auswuchs von neoliberalistischen Strömungen und der fortschreitenden Digitalisierung.
Und auch unser allgemeines Wertesystem entspricht laut der Philosophin Isolde Charim einer zunehmenden „narzisstischen Moral“.
Die „narzisstische Moral“ als gesamtgesellschaftliches Phänomen – unausweichliches Schicksal?
Charim beschreibt die „narzisstische Moral“ unserer heutigen Gesellschaft über folgende Merkmale:
- Selbstoptimierung als wichtigstes Lebensziel
- Konkurrenz und ständige Vergleichbarkeit (ua. über social Media) werden zum Dauerterror
- Eigene Werte- und Identitäts-Definitionen werden zur ganz persönlichen Richtschnur bei Ablehnung allgemein gültiger gesellschaftlicher Werte
Aus meiner Sicht sollte hier auch noch der immer stärker werdende Trend, sich selbst als „optimierte Ware“ auf dem „digitalen Markt“ darzustellen und anzupreisen, mit Betonung auf „Preis“ erwähnt werden.
Diese Phänomene begegnen uns als eine Form von gesellschaftlichem Terror, der uns alle automatisch in eine Spirale des persönlichen und gesellschaftlichen Narzissmus treibt. Sie nennt das eine “Bündelung von narzisstischer Moral“.
Als Beispiel erwähnt sie Phänomene wie die ständige Selbstdarstellung – in Form einer geradezu suchtähnlichen Selfie-Verbreitung. Ein wesentlicher Gesichtspunkt hier ist die Tatsache, dass es zur Sucht werden kann von möglichst vielen wahrgenommen zu werden. Aber auch die Idee, dadurch den eigenen „Marktwert“ zu steigern steckt in allen Formen der Darstellung auf social Media. Die Jagd nach Klicks, Likes und Followern als Konkurrenzkampf um „Selbstwert“ (oder Marktwert als Ware) treibt absurde Blüten.
Selbstwert – als Marktwert – ein Zeichen von „gesellschaftlicher Krankheit“ – oder haben sich nur die Darstellungsformen verändert – und das Phänomen befeuert?
Narzissmus ist ein allgemein menschliches Phänomen – dh. ein bestimmtes Ausmaß an „gesundem Narzissmus“ benötigen wir ja angeblich alle, um im Leben zu bestehen – oder? Bisher habe ich immer diese These vertreten und dachte dafür auch gute Argumente zu haben; schließlich müssen wir auf uns und unsere Qualitäten aufmerksam machen, um in dieser konkurrenzorientierten Welt zu bestehen – oder nicht?. Die klare Antwort ist – „Jain“ – denn es geht hier nicht immer um tatsächliche Qualitäten, außer möglicherweise um äußere Qualitäten – das ist aber im Zeitalter von Photoshop auch immer fraglicher.
Es geht vielmehr um eine mehr oder weniger glaubhafte Darstellung dieser (angeblichen) Qualitäten; und das sind nicht immer die tatsächlich vorhandenen. Wir leben also auch in einer Zeit, wo va. durch digitale Medien das Vorspiegeln falscher Tatsachen zur Hauptqualität geworden ist.
Das wirft die Frage auf, ob wir in unserer digital orientierten Hochglanzwelt nicht immer mehr die „Blender/innen“ an Macht gewinnen, die möglicherweise nicht im Einklang mit deren tatsächlichen Qualifikationen steht? Die Politik bietet uns hier immer neue bis zur Absurdität gesteigerte Beispiele (und dazu müssen wir nicht mal Donald Trump bemühen!!).
Was bedeutet Erfolg heutzutage?
Erfolg wird laut Charim heute nur noch dadurch definiert, wieviel Publikum jemand ansprechen kann. Ist das tatsächlich so – und welche Auswirkungen hat das gesamtgesellschaftlich?
Als Beispiel nennt sie hier auch die immer größer werdende gesellschaftliche Gruppe der Wissenschaftsskeptiker, die sich aufgrund ihrer stark vernetzten Masse als „Inhaber der Wahrheit“ sehen. Verschwörungsmythen haben Hochsaison – und als Rechtfertigung wird oft das „das steht im Internet“ anageführt. Das heißt meist im Klartext: Je besser sich VerbreiterInnen dieser wissenschaftsfeindlichen Inhalte im Netz darstellen und verbreiten, umso eher werden deren Wahrheiten für viele zur absoluten Wahrheit. Wissenschaftliche Erkenntnisse als „Ware“, die wenn nur gut verkauft von der Ware zur „Wahrheit“ wird?
Man könnte auch behaupten digitale „Glaubensgemeinschaften“ nehmen permanent zu – Pseudoreligionen im Netz als moderne Formen von Massenhysterie? Masse und Macht wird auf diese Weise umgewandelt in „Masse IST Macht“. Wo bleibt hier das stabile und reife Selbst aus der Psychoanalyse? Ein Selbst von Heilsbringern Durchblickern und selbsternannten Internet/Tiktok Gurus und InfluencerInnen?
Quantität statt Qualität
„Quantität statt Qualität“! Diese Formal wird zur absoluten Wahrheit, Produkte (und Menschen) gewinnen durch die Anzahl ihrer Klicks, Likes und Followern an Ruhm, Bekanntheit, Gewinn und Macht – man unterstellt ihnen somit auch Qualität und Wahrheitsgehalt. Aus dem „kategorischen Imperativ“ wird inzwischen ein narzisstischer Imperativ.
Ob Produkte oder Ideen; wer mehr davon verkauft ist Gewinner*In/SiegerIn! Aber Vorsicht! Hinter so manchem glitzernden äußeren Schein ist ein mehr oder weniger toxische Inhalt!
Also doch: Masse IST Macht! Hurra der gesellschaftliche Narzissmus ist Sieger.. pfeif auf Freud und alle folgenden WissenschaftlerInnen, Forschende, Neuerer – oder gibt es doch ein wirksames Gegenmittel?
Wie wär’s zum Beispiel mit kritischer Auseinandersetzung; mit dem Fremden (vielfach gelikten) oder – noch viel unbequemer – mit sich SELBST? Der Blick in den Spiegel (des Narziss) kann auch anders gestaltet werden zB. durch: Erkenne dich selbst!!
P.S.: Achtung – die Auseinandersetzung mit sich selbst könnte unangenehm werden; für Risiken und Nebenwirkungen dieses „Produkts“ übernehmen die Social Media Plattformen keine Haftung!!!
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Narz Talk Spezial Reihe – Narzissmus in Wien
Die beiden Wienerinnen Regina Schrott& Eva Nikolov-Bruckner führen durch die Stadt auf den Spuren von Herrn Freud.
1 Kommentar
Gesunder Narzissmus - für wen? fragt Eva von Narz mich nicht · 15. Juli 2023 um 9:26
[…] Selbstwert, Ich-Identität und gesellschaftlicher Narzissmus […]