Ein schwieriges Thema – Freiheit und Narzissmus oder weniger wertend ausgedrückt: Ein hochkomplexes Thema – Freiheit und Narzissmus

Narzissmus ist zu einer Art „Modeerscheinung“ geworden. Einmal googeln und man findet dutzende mehr oder weniger selbsternannte ExpertInnen, die Ihnen verraten welche 3 – 16 Merkmale (je nach Lese- oder Zuhörzeit), die Sie angeblich bemächtigen, jemanden mit ein paar „scharfen Beobachtungen“ ganz rasch zum Narzissten/zur Narzisstin abzustempeln. Dies erweist sich inzwischen offenbar auch als ein recht bequemer Trennungsgrund so auf „…ich habe im Internet nachgeschaut und beobachte an dir die drei Merkmale, die dich todsicher als narzisstisch ausweisen. Tut mir leid, sorry, aber mit einer/einem Narzissten kann ich nicht mehr zusammenbleiben!“

Dr.in Internet bzw. Social Media hat‘ s wieder mal geschafft, eine punktgenaue Ferndiagnose zu stellen!

Aber jetzt ‚mal schlechter Scherz beiseite: Wie ist das nun mit dem Zusammenhang von Narzissmus und Freiheit? Beim Thema Freiheit müssen wir gar nicht erst zum Narzissmus vordringen, um uns zu fragen:

Was ist das überhaupt, die „menschliche Freiheit“?

Mit dem Versuch der Beantwortung dieser Frage sind von vielen klugen Köpfen schon ganze Bibliotheken gefüllt worden. Freiheit, dieser vielstrapazierte Begriff, der so vielfach ge- aber ebenso oft auch missbraucht wird. Gibt es so etwas wie menschliche Freiheit, den sogenannten freien Willen, die Möglichkeit, mich als menschliches Individuum für oder gegen etwas (jemanden) zu entscheiden!?

Das Thema wird von der Philosophie, den Religionen, der Soziologie über Politologie und schließlich auch über die Psychologie seit Jahrhunderten auf- und abgehandelt! Es gibt große Namen, die davon ausgingen, dass der Mensch eigentlich keine Freiheit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden hätte. Sie sahen die Menschheit aus einer „deterministischen“ Perspektive; ob nun (um nur typische Beispiele zu nennen) Spinoza, Marx oder Freud. Und jeder hatte ein anderes Erklärungsmuster parat, warum der Mensch in seinem Handeln determiniert (also „vorbestimmt“) sei.

Freud hatte insofern ein deterministisches Menschenbild, als er aus seinem großbürgerlichen Denk- und Erklärungshintergrund heraus davon ausging, dass der Mensch durch seine in der Kindheit erworbenen Neurosen in eine bestimmte Richtung seines Lebens gedrängt würde. Sein 3-Schichten-Modell postuliert, dass man (in Einzelfällen auch „frau“ ) nur durch die Bearbeitung seiner eigenen Neurosen (in der Psychoanalyse) zu seiner individuellen menschlichen Freiheit gelangen könne.

Wo „Es“ war soll „Ich“ werden heißt das Postulat kurz zusammengefasst

Also wo bisher „niedrige“ unbewußte Inhalte (Triebe) unser Handeln bestimmten, muss das Ich (frei entscheidendes Individuum) die Oberhand gewinnen. Soweit ein wenig Freud in Kurzform, wichtig dabei: Der Mensch ist determiniert durch seine Kindheit, seine Eltern (meist ist bequemerweise die Mutter an allem Unglück schuld – obwohl die Frauen zu Freuds Zeiten weder individuelle Rechte noch Freiheiten hatten).

Also: Freiheit – freier Wille, freies Handeln gibt´s erst nach durchgeführter Psychoanalyse – ein Luxus, den sich bis heute nur eine eher schmale Gesellschaftsschicht leisten kann

Bei Marx ist das auch nicht wirklich einfacher (vor allem wenn man sich durch sein Originalwerk „Das Kapital“ durchkämpfen muss). Aber bei ihm ist kein Platz für Seelenpein durch neurotisierende Kindheit aufgrund irgendwelcher psychisch gestörter Mütter! Er geht es praktischer an und hat damit in vieler Hinsicht eine These geschaffen, die unsere Zeit immer noch prägt: Menschliche Freiheit, also freies Handeln ist immer zugleich eine Funktion der materiellen Verhältnisse. Diese Lektion haben wir inzwischen 150 Jahre nach Marx klar internalisiert. Und es zeigt sich auch, dass offenbar die BefürworterInnen und VorantreiberInnen des Turbo-Kapitalismus ihren Marx (zumindest seine Thesen) recht gut gekannt hatten und haben. Allerdings muss zu deren Ehrenrettung erwähnt werden, dass das Prinzip „Brot und Spiele“ (panem et cercensis) wohl auch schon vor den „alten Römern“ bekannt war.

Wie sieht das mit der Freiheit heute aus und inwieweit hat das Thema Freiheit mit dem (wohl hauptsächlich gesellschaftlichen) Narzissmus zu tun?

Sven Elmers schreibt in seinem Essay Der Narzissmus wird gesellschaftsfähig

„Geht man mit Aristoteles und Hegel davon aus, dass wir uns im alltäglichen Handeln weniger an kognitiv erschlossenen Prinzipien orientieren, sondern uns in erster Linie von Einstellungen leiten lassen, die wir durch soziale Routinen internalisiert haben, liegt die Vermutung nahe, dass Märkte auch unsere Persönlichkeitsmuster in einem viel stärkeren Maße prägen: Sie beeinflussen, wie wir uns selbst und unsere  Mitmenschen wahrnehmen, was jeder von sich und anderen erwartet, wie wir uns selbst und unsere Mitbürger behandeln. Dieser Aufsatz wird zunächst dafür argumentieren, dass Märkte insbesondere narzisstische Einstellungen begünstigen (…)“ 

Wow! Hier haben wir offenbar Spinoza, Marx und Freud neben Aristoteles und Hegel in einem Absatz versammelt! Elmers ist, wie viele andere Experten der Ansicht, dass unsere moderne digitalisierte und durchkommerzialisierte Welt dem Narzissmus Vorschub leistet.

Zumindest spricht dieser Essay die verschiedenen Formen und Möglichkeiten an, wie unsere moderne vom freien Markt („den Märkten“) geprägte Neoliberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung Einstellungen und Erwartungen (mit)prägt! Narzisstische Einstellungen werden dadurch begünstigt – da kann ich nicht widersprechen!

„Freiheit bedeutet Authentizität“

…schreibt ein weiterer kluger Autor (Manfred Prisching) in seinem Aufsatz zu „Freiheit und Unfreiheit in Gesellschaft und Staat“ zu dem Thema. Er wirft die Frage auf, inwieweit der westliche, europäische Mensch diese Freiheit und Authentizität erlangen und leben kann. Hier wird Authentizität so definiert, dass jemand mit sich selbst authentisch ist, wenn er/sie entsprechend den eigenen wesentlichen Grundwerten und Überzeugungen lebt und handelt. Der Begriff beschreibt einen ersehnten Zustand, der in Wahrheit für Menschen uneinholbar ist: Selbsterkenntnis, Eigenständigkeit – seinen eigenen Gedanken und Werten, Emotionen, Bedürfnissen und Überzeugungen entsprechend handeln.

Freiheit ist somit auch Voraussetzung, um seine Persönlichkeit zu entfalten und seine Authentizität zu entwickeln!

Er schreibt dazu: „Menschen fallen aus der Natürlichkeit der Welt heraus, sie können sich zu ihr, zu anderen Menschen und zu sich selbst reflektierend verhalten.  Sie können »entscheiden«. Das macht ihre Freiheit aus. Diese Freiheit des Denkens und Verhaltens wiederum macht Authentizität zu einem Problem. Denn nun kann sich der Mensch über sich selbst irren. Er kann andere über sich täuschen! (...)“

Ha! Und hier sind wir eindeutig wieder beim Titel dieses Artikels gelandet: Ein schwieriges Thema – Narzissmus und Freiheit! Haben wir die menschliche Freiheit des Handelns und des sich Verhaltens, wenn wir andere täuschen? Oder macht uns genau dieses „Tarnen und Täuschen“ eben genau im Gegenteil unfrei?!

Sind wir frei, wenn unser Leben immer stärker durch unsere vom Markt (den Märkten) geprägte Lebensart uns immer stärker determiniert, indem es ständig unsere Einstellungen manipuliert?

Freiheit im Sinne eines Freiseins von gesellschaftlichem Druck ist eher eine Erfindung des westlichen 20. Jahrhunderts

Bewegungen in diese Richtung (sich Freizumachen von bürgerlichen Erwartungen und Lebenskonzepten) war in der 1968er Bewegung das Gebot der Stunde. Diese Freiheit gebar wieder neue Ungereimtheiten! Wehe man hatte seinen Marx, Habermas, Sartre u.a. nicht gründlich studiert und konnte darüber gelehrt mitdiskutieren!

Jede neue Richtung hatte ihre neuen Zwänge, und die sogenannte „sexuelle Revolution“ brachte vor allem für Frauen neue Unannehmlichkeiten. Man (also frau) hatte bei dieser Scheinfreiheit mitzumachen (vor allem, bei dem was sich Männer so alles wünschten) sonst galt man als verklemmt! Der Zwang zur „sexuellen Freiheit“ war angesagt!

Bringt jede neue Mode, jede gesellschaftliche Bewegung mit dem Versprechen einer neuen Freiheit nicht auch wieder neue Unfreiheiten und Zwänge mit sich?

Wie sieht es denn heute mit unseren Freiheiten aus?

Zugegeben es gibt viele zusätzliche Möglichkeiten, sich zu informieren, Kontakte zu knüpfen, sich auszutauschen, als in den letzten Jahrzehnten vor der digitalen Revolution. Das Internet mit seinen Möglichkeiten bietet unendlich viele Optionen, seine „Freiheit“ optimaler auszuleben. Aber hat uns das glücklicher, zufriedener, authentischer und freier gemacht?

In der Art und Weise wie heute das „Geld regiert die Welt“ gelebt wird, entgleitet uns als Individuen die ersehnte Freiheit immer mehr. Wir leben im Hamsterrad der Selbstoptimierungs-Zwänge und werden ständig unaufgefordert damit konfrontiert nach „mehr“ zu streben (vor allem mehr an Konsumgütern).

Selbstdarstellung bis zur Absurdität wird schon in frühen Jugendjahren zum Gebot der Stunde

Wer hat noch die Freiheit in diesem Wettlauf nicht mitzuspielen (vor allem bei den Jugendlichen – auf dem Weg zu ihrer Identitätsfindung)? Haben sie wirklich die freie Wahl, hier nicht mitzuspielen?

Können wir es uns leisten, beim Wettrennen um die besten Jobs, das beste Image (die meisten Likes u.a.) nicht mitzuspielen? Könne wir es uns leisten, nicht zumindest so zu tun, als wären wir etwas ganz Besonderes (Achtung: Narzissmusfalle!)

Können wir es uns überhaupt leisten, „frei“ zu sein, ohne das ständige Bedürfnis möglichst der ganzen Welt (meist ist es ohnehin nur die eigene Blase) mitzuteilen, was wir gerade machen, gemacht haben- demnächst machen werden!

Dauerpräsenz (zumindest digital) und permanente Selbstdarstellung werden teilweise zum zentralen Lebenszweck!

Ist dies das neue Lebensmotto: Ich brauche meine täglichen Postings, die ich mit unheimlich vielen Followern teile – also bin ich!!! Weit entfernt von einem „cogito ergo sum“! Aus dem „ich denke, also bin ich“ wurde ein „ich poste (tik-toke usw.) – also bin ich!“ Das ist ein ziemlich pervertierter und wahrscheinlich auch gefährlicher Abklatsch dieser Maxime.

In einem sind sich fast alle ExpertInnen (TherapeutInnen, PsychologInnen, PsychiaterInnen u.v.a.) einig: Narzisstische Menschen sind nicht glücklich und schon gar nicht frei, sondern in ihrem eigenen Käfig aus Selbstüberschätzung, permanenter Selbstdarstellung und ständiger Gier nach Aufmerksamkeit und Bewundert Werden gefangen! 

Ausgeprägter Narzissmus ist gekennzeichnet durch extreme Ängste und Zwänge, die durch ein nach außen hin aufpoliertes Image aus einem künstlich aufgeblasenen Pseudo-Image überdeckt werden muss. Also alles andere als „Freiheit“! Zwänge und Ängste, die damit einhergehen, aber niemals gezeigt werden dürfen – sie sollen nicht an die Oberfläche kommen.

Freiheit sieht anders aus!

Da fällt mir eine wichtige Zeile aus Konstantin Weckers Lied vom „Willy“ ein: …Freiheit – Wecker – is koa Angst net habn – vor nix und neamand….!!! (Für alle die des Urbayrischen nicht mächtig sind: Freiheit – das heißt keine Angst haben, vor nichts und niemandem…)

Keine Ängste, keine Bedürfnisse, keine „Anhaftungen“ auch hier haben wir (neben dem Buddha, der sich zu seinen Lebzeiten zur „Befreiung“ durchgerungen hatte) ein weiteres berühmtes Beispiel: Diogenes. Der sagenumwobene griechische Philosoph, der so bedürfnislos in seiner „Tonne“ gelebt hatte. Der Mythos erzählt von der Geschichte, als Alexander der Große ihn besucht hatte und ihn nach seinen Wünschen gefragt haben soll. Der Philosoph, der gerade dabei war, den Sonnenschein zu genießen meinte (angeblich):

„Geh mir ein wenig aus der Sonne.“

Wie frei – wie glücklich – wie bedürfnisarm! Und was für eine schwere narzisstische Kränkung für den großen Alexander! Seine Reaktion darauf ist uns nicht bekannt. Ob er so frei war, darüber zu lächeln… Konnte er mit dieser Lehre etwas anfangen?

Tja – Freiheit ist offenbar ausgesprochen relativ!
Und was heißt Freiheit für Sie?

Herzliche Grüße aus Wien,
Ihre Eva Nikolov-Bruckner

grüner Narz mich nicht Strich

Ein kostenloses Beratungsgespräch mit Eva Nikolov-Bruckner können Sie HIER buchen.

Weitere Blogbeiträge von ihr, die Sie interessieren können, sind u.a. folgende:

Wut und Aggression

Scham und Schuld in Beziehungen

Gesellschaftlicher Echoismus

Eva Nikolov-Bruckner bietet bei Sorgerechtsstreit erforderlichen psychologischen Gutachten auch Gutachtenvorbereitung an. Hier kommen Sie zum Link.

Zusammen mit Regina Schrott (Gründerin von Narz mich nicht®) schrieb Eva Nikolov-Bruckner das sehr unterhaltsame und aufschlussreiche Buch „Narzissmus ist anstrengend“, das 2023 als erstes Buch im EMPATHIE Verlag erschienen ist.

Von beiden Frauen gibt es auch eine interessante Kurzvideo Reihe über Narzissmus, die in Wien gedreht worden ist. Sie finden diese HIER.


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