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Eva Nikolov-Bruckner – ist Psychologin im Kooperationsteam von Narz mich nicht® und beschäftigt sich mit Überlegungen zum Thema „Haben und Sein“ und vielen weiteren offenen Fragen über Wachstum und Bestätigung und inwieweit es da einen oder eben keinen Widerspruch gibt

Was können oder wollen wir hier als „Wachstum“ bezeichnen? Viele Möglichkeiten können da genannt werden: inneres Wachstum, geistiges bzw. psychisches Wachstum, ein Wachstum von dem, was man seinerzeit als „Weisheit“ bezeichnet hatte – also Lebenserfahrungen, die man/frau zu einem Wachstum der Persönlichkeit oder auch zu einer „inneren Reife“ geführt hat.

Was versteht man unter Wachstum nun genau?

Dazu gibt’s viele unterschiedliche Erklärungsmuster und diese sind stark von der jeweiligen Epoche, vom jeweiligen Zeitgeist, vom jeweiligen Wertesystem einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit abhängig. Hier ist zugegeben auch kein eindeutig klares Bild auszumachen. Es gab wohl in jeder Epoche eine mehr oder weniger differenzierte Gesellschaftsstruktur. Ein wesentliches Merkmal des menschlichen Strebens war immer wieder davon geprägt, in der gesellschaftlichen Hierarchie aufzusteigen (soweit das möglich war).

Damit verbunden waren nicht nur ein Zuwachs an materiellen Werten – so wie das heute vor allem in der westlichen Welt weitgehend unhinterfragt angenommen wird – sondern auch andere Attribute, die zu höherem gesellschaftlichen Ansehen beitrugen, wie z.B. Ruhm und Ehre, die nicht zwingend mit materiellem Zuwachs verbunden sein mussten.

In unserer Gesellschaft scheint Wachstum sehr oft in gesellschaftlichem Aufstieg durch Anhäufung von materiellen Werten zu bestehen. Zugegeben, gesellschaftliches Ansehen war meist an materielle Absicherung und vor allem an bestimmte Statussymbole gebunden (die aber nicht immer grundsätzlich materieller Natur sein müssen). Dennoch – das „Haben“ birgt in unserer Gesellschaft immer noch den wesentlichste Symbolgehalt des gesellschaftlichen Status. Die sogenannten Statussymbole beginnen schon im Kindergarten zu greifen (mein Papa hat aber ein größeres Auto, ich darf zuhause immer mit dem Tablet spielen usw.)

Aber nicht nur das Materielle zählt, es gibt durchaus auch andere wichtige gesellschaftliche Werte, die nicht nur mit Materiellem verbunden sind. Auch Berühmtheit, Präsenz in öffentlichen Medien sind wichtige Statussymbole. Socialmedia machts möglich, dass man „FreundInnen“ sammeln kann und sich selbst durch Posts digital inszenieren und zum Teil sogar neu erfinden kann. All das wird stark als gesellschaftliche Aufwertung wahrgenommen.

Kein Zweifel, wir als Menschen und somit soziale Wesen sind somit auch immer von gesellschaftlichem Wahrgenommenwerden als Aufwertung unseres Selbst(bildes) abhängig

Wachstum oder Bestätigung?

Wir brauchen soziale Bestätigung, um uns in unserem Wert innerhalb einer Gesellschaft und deren aktuellem Wertesystem einordnen zu können. Diese Tendenz ist durchaus normal und ein wichtiger Aspekt im Rahmen gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Gerade in bestimmten Phasen unserer menschlich-individuellen Entwicklung sind wir ganz besonders davon abhängig, von anderen Bestätigung zu erfahren. Es hilft uns, ein stabiles Selbstbild und einen robusten Selbstwert aufzubauen.

Je weniger wir davon in unserer frühen Kindheit mitbekommen haben, desto bedürftiger werden wir im Lauf des Lebens von dieser Bestätigung von außen, was bis zu einem Abhängigkeits- und Suchtcharakter ausarten kann. Der Aufbau und die Entwicklung einer stabilen Identität hängt stark von diesem „Wahrgenommen- und Angenommen-Werden“ von unseren frühen Bezugspersonen ab. Und hier geht es nicht – oder zumindest nur zweitrangig – um irgendwelche materiellen Werte. Es geht vielmehr um Zuwendung, Akzeptanz und positive Rückmeldung auf unser frühkindliches Dasein und Agieren.

Soweit, so gut oder schlecht, je nachdem, wie positiv diese Entwicklungsphasen abgelaufen waren, können Identitäten aufgebaut werden.

Persönliches Wachstum hingegen kann in unserer Gesellschaft sehr Unterschiedliches bedeuten

Freilich lassen sich Erfolge in meinem persönlichen, geistig-seelischen Wachstum nicht so gut nach außen darstellen, wie materieller Zuwachs. Schon der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim hat sich in den 1960er bzw. 1970er Jahren sehr fundiert mit diesem Thema auseinandergesetzt. In seinem Werk „Haben und sein“ stellt er die kritische Frage, in welche Richtung sich unsere westliche Gesellschaft bewegt. Wir wissen es inzwischen: die Entwicklung in Richtung des „Haben“ hat sich weitgehend vervielfacht und verselbständigt. Unsere Gesellschaft definiert sich viel mehr über das Bruttosozialprodukt als über den psychischen Zustand und die geistige Reife seiner Mitglieder.

Nur im uralten (und aus unserer Perspektive ziemlich „armen“, d.h. wirtschaftlich eher unterentwickelten) Königreich Bhutan verwendete man bislang die (für uns seltsam anmutende) Vorgabe eines „Brutto-Glücksprodukts“ als Messlatte für den Entwicklungsstand seiner Bewohner. Natürlich, dort herrscht ein anderes staatliches System, eine andere Gesellschaftsform, eine andere Religion (ein Mahayana-Buddhismus); also alles nicht mit unserer westlichen Kultur und Gesellschaftsform vergleichbar.

Wir können uns schwer vorstellen, wie man unter dermaßen bescheidenen Lebensbedingungen auch nur annähernd „glücklich“ sein kann

… oder zumindest zufrieden.

Wie geht das? wird man sich hier fragen, welch seltsame Menschen (wir neigen dazu diese Phänomene aus unserer Perspektive als eine gewisse kulturelle „Unterentwickeltheit“ anzusehen. Und dennoch – wenngleich auch nicht leicht nachvollziehbar: Es gibt Kulturen – wie in weiten Teilen Südasiens, wo einfach andere Werte zählen als in unserer dem Individualismus und dem Geld frönenden europäischen Kultur. Aber es hält uns auch nichts davon ab, zumindest zu versuchen, uns in irgendeiner Form mit anderen Denkweisen auseinanderzusetzen (und vielleicht auch daraus für uns etwas zu lernen).

Zugegeben, es ist nicht leicht, die eigene Sozialisation hinter sich zu lassen

… und weiter gut angepasst in dieser unserer Gesellschaft weiterzuleben; aber es ist zumindest einen Versuch wert.

Eine Erfahrung aus meiner eigenen Entwicklung: Ich habe mich selbst viele Jahre lang in einem „Orchideenstudium“ mit Sprachen und Kulturen südasiatischer Länder auseinandergesetzt und vieles ist mir nach wie vor fremd. Aber allein schon Sprachen aus anderen Kulturräumen sagen uns viel über andere Denkweisen. Beispielsweise gibt es schon östlich von Mitteleuropa in den meisten Sprachen (das beginnt schon z.T. bei Ungarisch und Russisch) kein eigenes Wort für unseren Begriff von „haben“. Das Wort „Haben“ wird auf unterschiedliche Weise umschrieben (z.B.: im Russischen, in den meisten indoarischen Sprachen – wie Hindi Nepali – aber auch im Arabischen).

Ist das ein Zufall? Natürlich wird auch das „Haben“, als Besitz oder eine Form des „zueigen Seins“ ausgedrückt, aus unserer Sicht umschrieben, aber ein Hilfsverb „haben“ fehlt.

Was also wäre menschliches Wachstum im Sinne des (von Bettelheim vorgestellten) „Seins“?

Worin könnte hier das Wachstum bestehen – und wohin und wie sollte dabei die Reise gehen? Was wollen wir erstreben für unser Leben, sodass wir uns als unterwegs in Richtung eines menschlich-seelischen Wachstums betrachten könnten? Und ist es überhaupt erstrebenswert?  Spielt es in unserer Gesellschaft eine so wichtige Rolle, dass wir dafür die so wichtige gesellschaftliche Anerkennung erhalten könnten?

Diese Fragen lassen sich nicht für jedermann/jedefrau allgemein gültig und gleichermaßen beantworten. Aber allein schon sich diesen Fragen zu stellen, ist wohl der erste (wesentliche) Schritt auf dem Weg zu einem beginnenden Wachstum. Und wann stellen wir uns diese Fragen? Meist nicht, wenn es uns besonders gut geht, sondern eher in Krisenzeiten.

Die Krise als Chance hin zu einem persönlichen Wachstum – das kann ich bestätigen, ist nicht nur ein geflügeltes Wort und lohnenswert.

Alles Liebe, Ihre Eva Nikolov-Bruckner
Psychologin im Kooperationsteam von Narz mich nicht®

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Weitere Blogbeiträge von Eva Nikolov-Bruckner, anderen KooperationspartnerInnen, Betroffenen und Regina Schrott finden Sie hier.

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1 Kommentar

Wut und Aggression · 22. März 2024 um 20:07

[…] Wachstum oder Bestätigung sind kein Widerspruch […]

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