In einer Familie aufzuwachsen, die von narzisstischen Beziehungen geprägt ist, kann tiefe Narben hinterlassen, die über Generationen hinwegreichen – ein transgenerationales Trauma. Es hat lange Zeit gebraucht, dieses wirre Netz an Traumata in meiner Familie zu entwirren und lange Zeit wollte ich das Thema Narzissmus, das in diesem Netz eine große Rolle spielt, nicht wahr haben.
Vor einigen Jahren, als ich mich intensiv mit den narzisstischen Dynamiken in meiner Herkunftsfamilie auseinandergesetzt habe, welche Rolle ich in diesem System spiele und welche biografischen Daten sich in meiner DNA wiederfinden, habe ich folgendes Gedicht geschrieben, mit dem ich diesen Blogartikel gerne beginnen möchte:
Ich bin das Symptom.
Ich bin das Symptom für euer Leid.
Ich bin das Symptom für euer Versagen.
Ich bin das Symptom für eure Unzulänglichkeit.
Ich bin das Symptom für eure Leere.
Ich bin das Symptom für eure Fehlentscheidungen.
Ich bin das Symptom für eurem Zwang.
Ich bin das Symptom für eure Einschränkung.
Ich bin euer Versuch es wieder gut zu machen.
Ich bin eure Hoffnung.
Ich bin euer alles auf eine Karte;
Aber was ist mit euch?!“
Während ich das Gedicht abtippe, läuft mir schon die erste Träne über die Wange. Ich habe es total vergessen und die Gefühle und die Gedanken, die ich bei seiner Entstehung hatte, fühlen sich wieder ganz frisch an. Diese Worte kommen aus meinem tiefsten Inneren. Ich fühle Schmerz, Trauer, Wut und einen Anflug von Ohnmacht.
Narzissmus ist ein Thema in meiner Familie
Als mein Bruder dieses Thema zum ersten Mal benannt hat, wollte ich es lange Zeit nicht wahrhaben. Inzwischen kann ich sehr klar die Dynamiken erkennen, die so tief verletzen und auf den ersten Blick gar nicht wie mein damaliges Verständnis von „Trauma“ aussehen. Trauma, so dachte ich lange Zeit, muss ein ganz schlimmes Erlebnis sein, wie ein Flugzeugabsturz, ein Brand, ein körperlicher Angriff… Inzwischen weiß ich, dass Trauma auch das Fehlen von etwas sein kann. Dass Trauma auch psychische Gewalt bedeuten kann, die von außen eben nicht so leicht zu erkennen ist.
Dieses Trauma, das seit Generationen in meiner Familie weitergegeben wird – das transgenerationales Trauma – hat ganz viel mit dieser für mich (inzwischen nicht mehr) neuen Definition zu tun.
Ein Therapeut hat vor vielen Jahren einmal eine sehr anschauliche Geschichte mit mir geteilt, die zeigt, wie Trauma und dysfunktionale Muster von Generation zu Generation weitergegeben werden:
Es ist der Hochzeitstag eines jungen Paares. Die beiden Familien kommen zusammen. Alle sind voller Vorfreude auf das gemeinsame Fest. Es ist Tradition, dass die Braut für das gemeinsame Fest einen Braten zubereitet. Der zukünftige Ehemann kommt zufällig an der Küche vorbei und wird Zeuge einer merkwürdigen Zubereitungsart. Die Braut teilt den Braten in zwei Teile und legt den einen Teil beiseite. Sie bereitet nur den einen Teil zu und legt ihn in den Topf. Später läuft er seiner zukünftigen Schwiegermutter über den Weg, schildert ihr seine Beobachtung und fragt verwundert, was das zu bedeuten hat. Seine Schwiegermutter ist überrascht über seine Verwirrung und entgegnet: „Ja aber weißt du denn nicht, wie man Braten zubereitet? Das macht man doch so!“
Er ist weiterhin verwirrt und fragt sich, warum die Hälfte des Bratens nicht zubereitet werden sollte. Später läuft er der Großmutter seiner Braut über den Weg. Er startet noch einen Versuch und spricht auch sie darauf an, was er beobachtet hatte. Sie lacht und erzählt ihm nun die Geschichte ihrer eigenen Hochzeit. Damals gab es ebenfalls Braten, der Topf war aber zu klein, sodass sie nur einen Teil des Fleisches zubereiten konnte.“
Jetzt wird klar, wo die seltsame Zubereitungsweise herkommt. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass in Familien unbewusst Muster, Verhaltens- und Denkweisen weitergegeben werden, die keinen Zweck oder Notwendigkeit mehr erfüllen.
Sie denken sich nun vielleicht, schön und gut, aber was hat das Ganze mit mir zu tun?
Im Alter von Null bis sieben Jahren formt sich unser Selbst grundlegend
Davon haben Sie sicherlich schon einmal gehört. In dieser Zeit nehmen wir ganz intensiv unsere Umgebung und die Menschen in dieser wahr und lernen durch diese Menschen, wie zum Beispiel soziale Interaktion funktioniert, wie mit Stress umgegangen wird, wie Beziehungen und Liebe aussehen. Diese Eindrücke verinnerlichen wir ganz tief in uns, in diesen ersten sieben Jahren.
Sicherlich lernen wir auch über das siebente Lebensjahr hinaus, aber die Erfahrungen und Eindrücke aus dieser Zeit sind das Fundament, zu dem wir immer wieder zurückkommen und das kann transgenerational traumatisierend sein.
Lernen wir also in dieser Zeit, dass die Vorbilder in unserem Umfeld sich zum Beispiel gegenüber anderen sehr höflich und nett verhalten, sobald diese aber weg sind, hinter ihrem Rücken lästern, kann es sein, dass unser kindlicher Verstand daraus ableitet, dass wir im Kontakt mit Menschen nicht ehrlich sein dürfen, „weil sich das so nicht gehört“.
Genau so können wir auch co-abhängige Beziehungsmuster erlernen, oder ausgefeilte Manipulationsstrategien. Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass wir uns im Erwachsenenalter 1:1 so verhalten, wie die damaligen Vorbilder. Das kann auch bedeuten, dass wir zum Beispiel immer wieder in eine Retter Rolle reinrutschen, weil wir gelernt haben, dass eine unsere Bezugspersonen von uns abhängig ist.
Zu erkennen, welche toxischen Dynamiken wir weitertragen, kann erst einmal schmerzhaft sein.
Die Wahrheit tut weh und gleichzeitig ist die Erkenntnis der erste Schritt Richtung zur Lösung
In jedem Problem findet sich immer eine Lösung. Wenn ich mein Leben lang als Retter:in missbraucht wurde, werde ich diesen Teil in mir wahrscheinlich nicht ganz umkrempeln können, aber ich kann mir überlegen, wozu er noch gut sein kann. Wo dient mir dieser Anteil? Welche Kompetenzen und Fähigkeiten bringt er mit sich? Zum Beispiel kann ein hohes Maß an Empathie darin verborgen sein oder eine starke Lösungsorientierung.
Und dann kann ich mir ganz genau überlegen, in welchen Situationen ich diesem Teil von mir Raum gebe und wann ich das lieber lasse und meine eigene Retterin bin!
Lisa Chevalier ist Kooperationspartnerin von Narz mich nicht®. Sie ist sowohl in Deutsch als auch auf Englisch als systemische Coachin und Veränderungsmanagerin tätig. Mehr zu Frau Chevalier können Sie HIER lesen.
Lisa Chevalier bietet jeden Freitag kostenlose Erstberatungen an. Sie können einen Termin bei ihr über dieses Formular buchen.
1 Kommentar
Piwi · 2. August 2023 um 10:36
Der Text lässt sich sehr gut und verständlich lesen. Das Gedicht und auch das Hochzeitsbeispiel gefallen mir sehr gut. Aufgrund eigener Erfahrung kann ich total mitfühlen. familiär sind da bei mir aber noch einige Fragen offen, die sich auch schwer beantworten lassen, wenn man sich für „no contact“ entschieden hat. Dafür bin ich umso dankbarer, wenn ich Texte wie diesen lesen darf.