Neulich, als ich beim Frisör saß, erzählte mir Frau Wolff, dass es früher in ihrem Salon Schamwände gab. Schamwände gaben den Kundinnen nicht nur das Gefühl der persönlichen Exklusivität, sondern schützten vor allem die Privatsphäre vor neugierigen Blicken der anderen im Raum. Man wollte nicht gesehen werden mit nassem, noch unfrisiertem Haar, der sich einwirkenden Farbe darauf, oder wenn einem die Bart- und Nasenhaare geschnitten wurden. Mein Mann brachte mich dann abends auf die Idee, einen Blogartikel von den Schamwänden zur Schamwende zu schreiben.

Wofür schämen wir uns?

Meist schämen wir uns vermeintlich dafür, von anderen nicht so wahrgenommen werden zu können, wie unser annähernd perfekter oder zumindest selbst akzeptabler Eindruck von uns sein sollte.

Sicher ist unsere Schamgrenze im Freundeskreis vertrauter Menschen eine andere als vor Fremden, und auch da gibt es eine wichtigere und unwichtigere Fremdheit. Mein Vater brachte früher oft den Einwand, wenn ich mir Sorgen um meine Außenwirkung machte: „Du willst die doch nicht heiraten.“ Was ich für mich so übersetzte: Da ich die Person nur einmal, höchstens zwei Mal in meinem Leben sehen werde – bekanntlich sieht man sich „immer“ zwei Mal – ist es völlig egal, wie ich bin. Nur, für den Fall, dass ich die Person heiraten wollte, sollte ich mich „anstrengen“, also nicht laissez-faire erscheinen, nicht so wie ich halt einfach bin, optisch und verhaltenstechnisch gemeint.

Wer bestimmt die Akzeptabilität unseres optimierten Selbstbildes, mit dem wir uns vor anderen zu präsentieren haben?

„Mach‘ uns ja keine Schande.“ Mit dieser drängenden Forderung wurde meine Mutter von ihren Eltern verabschiedet. Sie hat mir erzählt, dass sie sich außer Sichtweite des Elternhauses, was nur eine Häuserecke weiter war, umzog oder den Rock von über Knie lang unter Po lang wurschtelte.

Ich wurde noch so erzogen, ordentlich angezogen zur Schule zu gehen und nicht in zerrissenen Jeans, wie manche Schulkolleginnen von mir. Interessanterweise schämten sich diese nicht – ich hatte mich zu schämen, nicht dazuzugehören.

In der Schulzeit hätte ich mir Schamwände gewünscht

Einen eigenen geschützten Lernbereich, frei von modischen Diskrepanzen. Insofern macht die Schuluniform vielleicht doch einen Sinn, nämlich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das da wäre? Lernen in einem Schulsystem, für das ich mich schäme, wenn es meinem Kind im Aufklärungsunterricht uralte Sexualkundebögen aus den 70iger Jahren vorlegt.

„Auch Frauen dürfen einen Orgasmus haben. Es dauert nur länger.“

Als ich das las, war ich mir nicht sicher, ob ich laut lachen oder schimpfen sollte. Und dann, mit wem genau? Mit den peinlich berührten Lehrern, denen das C-Virus leider doch nicht den Aufklärungsunterricht erspart hatte? Sind wir seit den 68ern nicht aufgeklärter, sexuell freier, glücklicher?!?

© Bild: Regina Schrott

Die 68er Bewegung war die erfolgreichste Revolution der Menschheitsgeschichte

Der Sturz der Schamwände brachte die Schamwende. Man möchte es nicht für möglich halten, aber da passierte etwas mit unserer Gesellschaft und unserem gemeinschaftlichen Gefüge, das zwar unter Zwang, aber eben doch eine Art sozialer Kitt zwischen den Menschen gewesen war. Es löste sich auf…

Mit den 68ern begann eine radikale Unabhängigkeit von jedem zu jedem. Sicher ein notwendiger Befreiungsschlag, insbesondere für uns Frauen. Endlich durften auch wir über unseren Körper und unser Leben frei verfügen und zunehmend – wie Männer schon immer – tun und lassen, was wir wollten.

Mit der sozialen Unabhängigkeit ging allerdings der Selbstoptimierungswahn los

Wenn man bzw. frau unabhängig und frei ist, dann muss man sich anders am Beziehungsmarkt präsentieren. Das, worum sich früher das Elternhaus gekümmert hat, nämlich die Tochter gut unter die „Haube“ zu bringen, darum durfte man sich jetzt selbst sorgen oder eben gar nicht erst anstreben.

Unter die Haube kommen, wie beim Frisör unter die Trockenhaube, womit wir wieder bei Thema dieses Blogbeitrags wären…

Von Schamwänden zur Schamwende

Ich frage mich ja, wie die Menschen zum Frisör hingekommen sind… in verspiegelten Taxis? Mit Schal um das „Bad Hair“ gehüllt? Vielleicht, so denke ich hier in unserem Garten sitzend weiter – übrigens trage ich nur einen Kimono, aber geschminkt und beschmuckt, man weiß ja nie, wer durch die Hecke lugen könnte – ist Scham etwas sehr Exklusives.

Noch letzte Woche in Wien saßen mein Mann und ich am Schwedenplatz, warteten auf den Beginn eines Theaterstücks und beobachteten Menschen. Uns fiel eine kleine zerzauste Gruppe auf, deren Schamgrenze durch das Schicksal oder auch eigene Entscheidungen (es steht mir nicht zu, dies zu beurteilen, denn meine Scham war zu groß, sie danach zu fragen) tiefer zu sein schien als für den oder die OttonormalverbraucherIn.

Ein Mann lag in einem Rasenstück, seine Hose entblößte zur Hälfte sein Hinterteil, vor ihm lag eine Flasche Wein umgekippt, dennoch hatte er eine sonderlich anmutende Eleganz, als er auf seine Armbanduhr schaute.

Dann war da eine Frau in einer rosa Pygamahose, ungepflegtes, aber hochgestecktes Haar, die über die Rückenlehne der Parkbank, auf der sie lag, eine Decke ausgebreitet hatte – vermutlich vielleicht, um sich zu schützen. Oder schämte sie sich, im öffentlichen Raum so sein zu müssen? Schämte sie sich oder hatten wir uns zu schämen, weil wir die Szenerie beobachteten, auch ganz schamlos?

Es fehlt irgendwie oft an Schamwänden seit der Schamwende…

Als die Frau aufgewacht war, grüßte sie ein anderer Mann auf der Nachbarbank freundlich und bot ihr eine Zigarette an. Galant gab er ihr Feuer und deutete einen Handkuss an. Wie aus der Zeit gefallen und nicht der Öffentlichkeit unserer neugierigen Blicke feilgeboten. Wie in ihrer eigenen Realitätsblase – eine Szenerie für sich.

Je stabiler die eigene Realitätsblase ist, umso weniger tangiert mich die äußere Realität

Das trifft auch auf narzisstisch akzentuierte Menschen zu (und nein! – meine Assoziationskette hat nichts mit den beobachteten Menschen vorm Theater zu tun). Es ist ein Gedankensprung, den ich hier vollziehe, weil Sie diesen Blogbeitrag schließlich auf unserer Webseite Narz mich nicht® lesen.

Narzisstisch akzentuierte Menschen leben in ihrer Realitätsblase bewusst, komplett ignorierend, dass es um sie herum eine weit aus größere Realität gibt, von der sie ein kleiner Teil sind.

Mittlerweile wissen wir, dass eine der drei Hauptgründe für Narzissmus Scham ist

Im Dauervergleich mit allen anderen, lässt es sich auch ständig schämen, weil man nicht schön genug, groß genug, erfolgreich genug, etc. genug ist. Es wird immer jemanden geben, der mehr hat oder mehr scheint oder einfach mehr Glück im Leben oder die günstigeren Entscheidungen für sich getroffen hat. Wenn man das nicht erträgt, muss man sich abschotten und im Glashaus verbarrikadieren. Hochgradig narzisstisch verhält man sich allerdings, wenn man aus diesem Glashaus mit Bewertungssteinen wirft und den anderen die Schuld für das zerbrochene Glas gibt.

Verhält man sich zwanghaft immer narzisstisch akzentuiert, könnte es sich um eine Persönlichkeitsstörung handeln

Oft ist die Umgebung unangenehm berührt und beschämt durch das narzisstische Auftreten, das an ein ungezogenes Kind erinnert, das laut schreiend seinem Willen Ausdruck verleiht. „Ja, sag‘ einmal, schämst du dich denn gar nicht, so laut rumzuschreien, nur weil du einen Lutscher willst?!?“

Oder Dänemark, die Schweiz, die Weltherrschaft und fünfzig Prozent Zölle auf ausländische Produkte (Anspielung auf D. Trumps narzisstisch akzentuierte Forderungen)… Ist das nicht zum Fremdschämen?

Ich merke schon, über Scham lässt sich vieles schreiben. Vielleicht ergänzen Sie mich in Kommentaren unterhalb dieses Blogbeitrags. Dann tauschen wir uns über‘ s Schämen aus. Wie würde Ihnen das gefallen?

Es grüßt Sie herzlichst –
Ihre Regina Schrott

P.S.: Ich hoff‘, Sie haben keine Einwände, aber wir haben keine Schamwände.

endloslange Reihe an Schamwänden in Urinalen

P.P.S.: In Urinalen sind Schamwände Pflicht. Wieso wohl? Im alten Rom gab es offene Latrinen, sogenannte Kommunikationstoiletten. Schämte man sich damals weniger?

Latrine im alten Rom, Foto: Dennis G. Jarvis

grüner Narz mich nicht Strich

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Für ein Gespräch über Scham bietet Regina Schrott kostenlose telefonische Sprechstunden an. Hier kommen Sie zu unserem Buchungskalender.


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