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Leben wir in einer narzisstischen Gesellschaft?

Spiegelt sich eine narzisstische Gesellschaft in Handycam und Fotoshop?

Leben wir wirklich in einer narzisstischen Gesellschaft? Diese Frage stellen sich verschiedene Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen nicht nur seit Jahren, sondern seit Jahrzehnten. Die Behauptungen, dass sich vorrangig. der „Westen“ zu einer narzisstischen Gesellschaft entwickelt, werden immer lauter. Was ist dran an den Kassandrarufen?

Wie immer, wenn es um hochkomplexe gesellschaftliche Fragen geht, kann hier kein klares Ja oder Nein die Antwort sein. Außerdem ist der sogenannte „Narzissmus“ kein modernes Phänomen, auch wenn er als pathologische Krankheitsform erst mit der Jahrhundertwende (zum 20. Jh.) in der Psychiatrie auftaucht.

Erst durch Freuds klassische Theorien über Narzissmus gewann er seinen fixen Platz im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen, Neurosen et.al. Damit begann aber auch ein Trend für andere Disziplinen, sich mit dem Phänomen Narzissmus näher auseinander zu setzen. Und so schreiben in den letzten Jahrzehnten Philosophen, Soziologen, Ökonomen, Psychiater, Psychologen ihre Überlegungen zum Thema aus ihrer jeweiligen Perspektive.

Die inflationäre Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ für unterschiedlichste Erscheinungen

Einen besonderen Kick bekam dieses Thema in den letzten beiden Jahrzehnten durch die zunehmende Digitalisierung und Social Media. Rund um die Problematik einer zunehmenden Digitalisierung und den damit einhergehenden sozialen Auswirkungen poppte die Diskussion um gesellschaftlichen Narzissmus wieder auf. Allerdings muss man auch den „Alten“ (wie Freud und seinen (Neo-)Freudianern) zugutehalten, dass sie durchaus schon auf dieses Phänomen hingewiesen hatten. Allerdings gab es zu deren Zeiten weniger „Küchenpsychologie“ im Alltag und in der Alltagssprache. So wurde nicht derart schnell mit laienhaften Diagnosen um sich geworfen wie heute, Und es wurde nicht aus jedem Anzeichen von Rücksichtslosigkeit und Machtgier schon eine Diagnose „Narzissmus“ erstellt. Hier reicht das Spektrum weit über diverse Auffälligkeiten, über Neurosen bis zu Persönlichkeitsstörungen wie „Borderline“ hinaus. Das soll natürlich nicht heißen, dass alle Auswüchse von Rücksichtlosigkeit, Machtgier und Allmachtsfantasien gutzuheißen sind!

Die Entstehung von Narzissmus

Zwar gibt es bezüglich der Herkunft des Begriffs eine klare Quelle (die griechische Mythologie), aber wo die Pathologie von narzisstisches Verhalten beginnt, darüber herrscht wenig Konsens. Bezüglich der Entstehung (Ätiologie) scheinen neuere Studien im Grunde Freuds Theorien vielfach zu bestätigen. Aber, was im Rahmen der populärpsychologischen Diagnosen meist unbeachtet bleibt, ist die Ausprägung von Narzissmus innerhalb eines Kontinuums. Schon Freuds Theorien gehen davon aus, dass es sowas wie einen „normalen“ bis „gesunden Narzissmus“ gibt, der uns hilft im Alltagsleben zu bestehen. Erst ab einer bestimmten Ausprägung (auf beiden Seiten des Kontinuums) kann pathologischer Narzissmus oder Echoismus (die gegenteilige Ausprägung des krankhaften Narzissmus) angenommen werden. In gewisser Weise bilden beide Enden dieses Kontinuums die pathologischen Formen des Narzissmus ab.

Nun ist die Frage, was ist „normal“ und was ist „pathologisch“ (also krankhaft), schwer allgemeingültig festzulegen. Es ist immer an den gesellschaftlichen Werten einer Kultur ausgerichtet. Zu Freuds Zeiten, war es normal, dass Männer sich vermehrt auf der einen Seite des Kontinuums befanden und Frauen bei den EchoistInnen (als Gegenpart zum Narzissten). Schließlich passte es genau in das gesellschaftliche Rollenbild. Und viele KlientInnen von Freud würden heute nicht mehr in seine Psychoanalyse kommen; sie hätten keine „hysterischen Symptome“. Das sogenannte Krankheitsbild der „Hysterie“ entsprang weitgehend einer unausgelebten Rebellion gegen gesellschaftliche männliche Übermacht und „weibliche Ohnmacht“. Dennoch hat sich Freud schon zu seiner Zeit mit der Frage auseinandergesetzt, wieweit Narzissmus auch ein gesellschaftliches Phänomen ist. Die Frage zieht sich also schon weit über ein Jahrhundert durch unsere westliche Gesellschaft.

Macht und Machtausübung als „narzisstische Gratifikation“

Heute sind diverse narzisstische Ausprägungen in allen Bereichen der Gesellschaft angekommen. Gründe dafür mögen sein, dass Phänomene von Macht, sowie Machtgewinn und -ausübung stärker hinterfragt werden. Wie Sprenger und Joraschky in ihrem Werk „Mehr Schein als Sein“ betonen, zeigen sich heute viele „Spielarten des Narzissmus“ klarer. Sie beziehen sich dabei, wie andere Autoren auch auf die „narzisstische Balance“, also ein Austarieren von Selbst- und Fremdliebe. Diese Ausprägungsformen tauchen auch schon in den Freudschen Theorien auf. Dort wird das Auftreten von pathologischem Narzissmus durch den nicht gelungenen Wechsel von der (infantilen) Selbstliebe zur (reifen) Objektliebe postuliert. Wo diese (zugegeben schwer aufrecht zu haltende) Balance zusammenbricht, beginnen pathologische Formen von Narzissmus.

Narzissmus und Macht

Sprenger/Joraschky beleuchten Phänomene von verstärktem Narzissmus im Bereich Politik, Medien (Starrummel), Kunst und Wirtschaft „Big Business“. Der Erhalt von Macht und die Möglichkeit Macht ausüben zu können beinhaltet zweifelsohne eine „narzisstische Gratifikation“ (Belohnung). Das bedeutet noch nicht, dass Macht per se als negativ gesehen werden muss. Es beinhaltet immerhin die Möglichkeit, gestalten zu können. Wenn ein Politiker/eine Politikerin vom Volk mit Stimmenmehrheit gewählt ist, dann hat man ihm/ihr damit Macht verliehen. Es enthält die Möglichkeit, bestimmte politische Grundideen umzusetzen (in Demokratien mit einer Mehrheit im Parlament).

Macht zu erhalten, um zu gestalten ist somit noch nicht grundsätzlich als negativ anzusehen. Aber – was geschieht, wenn eine schon zum Narzissmus neigende Persönlichkeit durch diese Gratifikation an Narzissmus zugewinnt? Wie viele Beispiele (auch auf der aktuellen politischen Weltbühne) zeigen, dreht sich das Hauptproblem um das Loslassen der Macht. Es gibt das psychologische Phänomen, dass Menschen jede Form von Verlust viel deutlicher (und schmerzhafter) empfinden als jeglichen Gewinn. Studien dazu besagen, dass jeder Verlust mindestens doppelt so stark wahrgenommen wird, wie ein Gewinn.

Also ist jedes Verlieren oder Loslassen von der narzisstischen Gratifikation durch Macht ein besonders intensives Verlusterlebnis. Und die narzisstische Gratifikation durch Machtgewinn führt zu einer Form von Sucht nach Machtgewinn und Machterhalt. (Beispiele dazu lassen sich selbst im „demokratischen Europa“ leicht ausmachen). Daher ist es für ein Individuum existentiell wichtig Machtverlust um jeden Preis zu vermeiden. Fazit: Machtverslust ist schon beim „normalen“, narzisstisch ausbalancierten Menschen schmerzhaft!!!. Um wie viel schmerzhafter ist es damit für unbalancierte NarzisstInnen, deren vorhandenes narzisstisches Potential durch den Machtzuwachs ausgedehnt wurde.

Scheinbarer Machtzuwachs durch Social Media (Follower und Likes als Suchtpotential)

Nun gibt es auch auf gesellschaftspolitischer Ebene diverse Formen von realem und subjektiv wahrgenommenem Machtzuwachs. Ein durchaus bedrohliches Potential kann auch kollektive Macht (die Macht einer Gruppe) einnehmen. Der Ruf „gemeinsam sind wir stark“ gilt hier für alle gesellschaftspolitischen Gruppen und Bewegungen.

So wichtig es für gesellschaftspolitische Entwicklungen ist, der kollektiven Macht Raum und Stimme zu geben, so gefährlich können gewisse Auswüchse sein. Wenn nämlich sogenannte „Führungspersönlichkeiten“ solche Gruppen vereinnahmen und manipulieren können die Folgen verheerend werden. Die Auswüchse dessen können wir in jeder historischen Epoche immer wieder wahrnehmen. Hier scheint die Menschheit bis heute kaum dazugelernt zu haben. Wie hier vor allem Haller (s. die narzisstische Kränkung“) ausführt, kann die Macht einer Gruppe, die sich narzisstisch gekränkt fühlt ein ungeheuer destruktives Potential entwickeln. Das zeigt sich vor allem vor dem Hintergrund von massenpsychologischen Phänomenen. Diese besagen, dass sich Menschen in großen „aufgeheizten“ Gruppen jenseits von Vernunft und Logik verhalten.

Die Gefahren der Bewertungs-Manie im Netz (scheinbare Macht durch Daumen runter)

Bei allen Vorteilen, die sich durch die Breitenwirkung sozialer Medien ergeben, liegt hier auch ein gefährliches destruktives Potential. Der Trend alles und jedes ständig bewerten zu lassen hält für jede/n ein gewisses Machtpotential bereit. Was aber macht der Trend zu ständigem Bewerten mit der Gesellschaft und den dauerbewertenden Individuen?

Es gibt hier meist keine klaren Regeln und schon gar keine Kriterien, nach denen bewertet wird. Ein „mag ich“ oder „mag ich nicht“ sind subjektive und vereinfachende Bewertungskategorien, die noch nichts über Qualität aussagen, bestenfalls über persönlichen Geschmack. Und der persönliche Geschmack ist eine äußerst subjektive manipulierbare Größe geworden. Subjektive Prioritätensetzungen einzelner Personen werden plötzlich zur „allgemeingültigen Messlatte“ erklärt; von allem und jedem. Es wird nicht hinterfragt, ob die Bewerter*innen Erfahrung, Hintergrundwissen, oder Fachexpertise mitbringen. Die hier geforderte „Schwarmintelligenz“ führt in eine falsche Richtung; nicht immer hat eine möglicherweise wenig reflektierte „Mehrheit“ recht.

Social Media Jugendkultur

Eine besonders große Gefahr birgt dieses Phänomen innerhalb einer Social Media Jugendkultur. In der Adoleszenz ist bekanntlich die Ichstärke und das Selbstwertgefühl besonders filigran. Nachweislich schwanken hier viele zwischen „narzisstischen Größenfantasien“ und äußerst zerbrechlicher Ichstärke. Die Bewertung der eigenen Gruppe (oder Medienblase) wirkt sich besonders stark auf das Selbstwertgefühl aus. In kaum einer anderen Phase wirken „Likes“ oder eben keine, sowie Daumen hinauf oder hinunter stärker.

Nicht zufällig versuchten immer wieder faschistoide Politiker und Strömung besonders die verunsicherte Jugend mit unterschiedlichsten Methoden auf ihre Seite zu ziehen.

Das Internet und Social Media erleichtern es gefährlichen Bewegungen um ein Vielfaches im sogenannten „Trüben zu fischen“. Ob es nun um Rekrutierung für Terrorgruppen oder um rechte identitäre Bewegungen geht. Algorithmen und Suchmaschinen leiten die „Rekrutierer im Netz“ rasch auf die richtige Spur. Versprechungen durch die „richtige Haltung“ (wie immer diese aussieht) zu einer Gruppe dazuzugehören und damit Identität zu gewinnen, laden ein mitzumachen.

Gesundheitliche Folgen

Im harmlosesten Fall geht es darum, die richtigen Produkte (durch Influencer*innen beworben) zu kaufen, um „in“ zu sein und dazuzugehören. Im schlimmsten Fall werden seelisch verunsicherte und identitätssuchende Jugendliche für eine Terrorgruppe rekrutiert. Die äußerlichen Auswirkungen sind sehr unterschiedlich, das Grundprinzip einer problematischen Identitätsfindung bleibt konstant.

Wie gefährlich Social Media Meinungsbildung sein und zu welchen Auswirkungen sie führen kann, hat die Zeit der Pandemie demonstriert. Die Macht von primär jugendlichen Influencer*innen auf Social Media ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Sie peilen sind genau jene Altersgruppen an, die bezüglich der Ausprägungen narzisstischer Größenfantasien gekennzeichnet sind.

Verschiedene Altersgruppen

Gerade die Altersgruppen zwischen 16 und 29 Jahren sind hier sehr anfällig. Danach pendeln sich narzisstisch geprägte Selbstbilder meist wieder ein. Besonders instabile und psychisch auffällige junge Menschen werden hier oftmals in ihrer narzisstischen Symptomatik verstärkt. Ein Beispiel dafür bilden vor allem Gruppen auf Social Media, die beispielsweise anorektische (magersüchtige) Personen, also meist junge Frauen in ihrem gestört wahrgenommenen Körperempfinden unterstützen.

Wenngleich dies auch nicht die große Mehrheit darstellt, so birgt hier auch eine kleine Gruppe große Gefahren. Wenn eine Community jemandem bestätigt, dass ein „ausgehungertes“ super schlankes Körperbild einem Schönheitsideal entspricht, dann ist das nicht nur „jugendliche Spinnerei“, sondern lebensbedrohlich. (Anorexia nervosa als Krankheitsbild zählt zu den psychischen Störungen, die am häufigsten tödlich enden)

Zwar hat jede Epoche ihre Moden und ihre „Verrücktheiten“ in der Gesellschaft, im Sinne einer Abweichung von gesellschaftlichen Normen. Jedoch nehmen manche Auswüchse einer durchdigitalisierten Gesellschaft bedrohliche Formen, im Sinne der psychischen Gesundheit an.

Dazu aber mehr in meinem nächsten Blog; zum Thema der Auswirkungen der Digitalisierungs-Auswüchse nicht nur auf die narzisstische Symptomatik, sondern auch auf Wahrnehmungstendenzen und Aufmerksamkeitsspanne.

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Wenn Sie ein kostenloses Beratungsgespräch zum Thema Coabhängigkeit von Narzisst*innen, toxische Beziehungen und wie kommen Sie da raus mit Eva Nikolov-Bruckner möchten, kontaktieren Sie Frau Nikolov-Bruckner direkt über nikolov-bruckner@narz-mich-nicht.at

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Narz Talk Spezial – Narzissmus in Wien

Die beiden Wienerinnen Regina Schrott & Eva Nikolov-Bruckner führen durch die Stadt auf den Spuren von Herrn Freud.

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Hier finden Sie SOFORTHILFE und Erste Hilfe Tipps im Umgang mit Narzissen

Und das ist unser Team und unsereKooperationspartner*innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Kategorien: EchoismusNarzissmus

1 Kommentar

Social Media - Gesellschaft und Narzissmus · 16. Juli 2022 um 8:12

[…] wir wirklich in einer narzisstischen Gesellschaft? Diese Frage habe ich in meinem letzten Blog aufgeworfen. Ebenso wie verschiedene Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen sich diese Frage […]

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