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Dieser Blogbeitrag über Kunst – Freiheit von Regina Schrott und Henning Glasmacher entstand im Garten der beiden. Sie saßen nebeneinander und schrieben ihre Texte unabhängig voneinander. Beide wussten nicht genau, was der andere schreibt. Passend zum Thema Kunst – Freiheit! Wir haben die beiden Texte ineinander geschachtelt – links der von Regina Schrott, rechts der von Henning Glasmacher.


Freiheit ist für mich eine Entscheidung

Warum meine ich, dass Freiheit eine Entscheidung ist? Grundsätzlich ist zu vermerken, dass es abhängig davon ist, wo ich mich befinde. In welchem Land ich lebe – ob in einer Diktatur oder in einer anderen Art von Vorgaben. Allerdings auch nur bedingt, denn zu der Entscheidung für Freiheit kommen weitere Faktoren, auf die ich hier eingehen werde. Es kann durchaus überheblich wirken, am Ende werden Sie aber feststellen, dass dem nicht so ist. Wenn Sie genau lesen und verstehen, was ich Ihnen mitteilen möchte.

Als erstes möchte ich auf die Thematik der Situation, die Entscheidung für die Freiheit wählen zu können, eingehen. Wir sind heute Nachmittag nach einem Wochenenden in Venedig zurückgekommen. Der Grund unseres Besuchs in Venedig war die Biennale, die alle zwei Jahre stattfindet. Das Thema dieser 60. Biennale war „Foreigners everywhere“ – Ausländer überall. Auch wir sind Ausländer in Italien gewesen, beim Besuch der Biennale.

Warawa Wawa – Fotograf River Claure

Mich haben die Installationen von Menschen am meisten berührt, die in unterschiedlichen Ländern für Ihre Freiheit kämpfen. Menschen, die in Ländern leben, die eine schwierige politische Lage haben. Regime, die es nicht zulassen, dass die Menschen eine eigene Meinung haben. Länder, die von Menschen geführt werden, die nicht wollen, dass die Landsleute sich für die Freiheit entscheiden. Dafür kämpfen die Menschen, die dort beheimatet sind, teilweise mit ihrem eigenen Leben.

Es waren Videos von Kämpfen zu sehen

Von Menschen die auf der Straße beteten. Von Menschen die über ihre Situation gesprochen haben. Von Menschen die völlig erschöpft gewesen und fast gestorben sind. Dann gab es Videoinstallationen von Menschen, die ihren Fluchtweg auf eine Landkarte gezeichnet haben. Die Videos liefen parallel und alle waren unterschiedlich. Eines hatten sie aber gemeinsam: Es wurde gezeigt, wie schwer es für manche Menschen ist, sich für die Freiheit zu entscheiden. Den einen, weil es einfach nicht möglich ist; den anderen, weil die Ausweise es nicht erlauben oder die Menschen einfach gar keine Ausweise haben und somit ihr Land nicht verlassen können.

Fluchtwege

Kunst ist subjektiv, von Subjekten für Subjekte geschaffen…

Ich habe Kunstgeschichte studiert. Das heißt auch gar nichts. Genauso könnte ich jetzt schreiben, dass ich im Nagelstudio arbeite und Katzenvideos poste. Vermutlich würde ich damit sogar mehr Aufrufe erhalten, als wenn ich über Kunst und Narzissmus schreibe. Genauso irrelevant ist es, wer ich bin oder wofür ich mich halte, wenn ich Kunst betrachte, interpretiere und mir mein eigenes Urteil darüber mache.

„Kunst muss man nicht verstehen“, habe ich neulich gehört und mich innerlich gewehrt, denn wozu dann Kunst überhaupt, wenn sie nicht (richtig) verstanden werden möchte? Wenn sie ohne Message, ohne Aussage für sich steht, ist sie dann nicht pure Selbstdarstellung oder sogar Selbstzweck in ihrer eigenen Realitätsblase? Führt Kunst dann nicht bloß einen Monolog im seltsamsten Fall mit sich selbst, weil sie sich selbst genügt? Das ist für mich wie Gesang unter der Dusche, wissend, dass nicht einmal die Nachbarn zu Hause sind, die sich daran erfreuen oder stören könnten…

Ist das dann überhaupt Kunst?

Vor allem dann, wenn sie sich in die Öffentlichkeit stellt, wie bei der Biennale in Venedig oder den Olympischen Spielen in Paris…


Bevor wir nach Venedig reisten, um die Biennale zu besuchen, bin ich im Kiosk nebenan gewesen und kam mit der Frau und ihrem Mann ins Gespräch. Die beiden führen den Kiosk seit vielen Jahren. Beide kommen aus dem Iran. Über die Nachfrage, wie und ob sie schon Urlaub hatten, kamen wir ins Gespräch über ihr Leben in Deutschland. Ich fragte die beiden, ob sie damals gerne ihr Land verlassen haben. Beide bejahten meine Frage mit den Worten: „Damals im Iran waren die Lebensumstände so schlecht, dass jede andere Entscheidung eine bessere war.“

Sie sagten auch, dass sie durchaus eher privilegiert gewesen sind und damit die Ausreise leichter war. Es besteht noch Kontakt zu Menschen, die dortgeblieben sind. Einige von ihnen aus fehlenden Mitteln, andere aus Verbundenheit zum Land oder deren Glauben.

Sie haben an keinem Tag ihre Entscheidung für die Freiheit bereut

… und das obwohl oder weil sie aus einem Land gekommen sind, welches nicht wollte, dass „deren“ Menschen es verlassen.


Um auf das Beispiel mit dem Gesang unter der Dusche ohne Nachbarn zurückzukommen… würde ich mich dabei filmen und es anschließend auf Social Media posten, ist es dann Kunst? Wenn ich mich dann über öffentliche Kritik ärgern würde, wäre das dann nicht grundseltsam?

Ich mache etwas, veröffentliche es und verweigere den Dialog oder akzeptiere nur Applaus oder bin sogar so arrogant, dass mir selbst der Applaus egal ist. Wie narzisstisch wäre dies dann?

Kunst – Freiheit

Wenn sich Kunst alle, wirklich alle Freiheiten nehmen darf und soll, wer nimmt dann der Öffentlichkeit das Recht, diese auch zu kritisieren? Oder hat Kritik – gleich ob negativ oder positiv – nicht alle Freiheiten?

Ich hadere, ja ich hadere und deshalb stelle ich so viele Fragen. Denn auch dieser Blogbeitrag, den ich zum ersten Mal zusammen mit meinem Ehemann schreibe, steht nun in der Öffentlichkeit – wie übrigens fast alles, was wir tun.


Ich streue jetzt auch eine Frage hier ein. Eine Frage, bei der sie sich vermutlich wundern werden, was diese mit Freiheit zu tun hat. Ich beantworte diese etwas später und Sie dürfen oder auch nicht – auch das ist Ihre Entscheidung – darüber nachdenken oder das Ergebnis direkt suchen.

Wissen Sie, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Sie als Mensch auf der Welt sind und jetzt diesen Text lesen?

Haben Sie sich diese Frage noch nie gestellt? Wenn nein, dann prima, denn jetzt ist Sie in Ihrem Kopf und Sie werden sicherlich darüber nachdenken. Geben Sie einen Tipp ab, einfach so, als würden Sie Lotto spielen. Schreiben die erste Zahl, die Ihnen in den Sinn kommt auf einen Zettel. Um Sie zu beruhigen, es gibt nur wenige Menschen, die dies wissen. Die Antwort ist aber entscheidend für die Entscheidung zur Freiheit an sich…


Auf der 60. Biennale in Venedig berührte mich besonders ein Bild von Safet Zec, das eine Mutter mit ihrem toten Kind zeigt. Ich musste weinen, als ich den kleinen blauen Schuh sah, weil ich mir vorgestellt habe, wie dieses Kind in diesen blauen Schuhen gehen lernte, seine ersten mutigen Schritte tat, vielleicht tanzte und dann plötzlich war alles vorbei. Sein Leben genauso wie sein Weg, den es nun nicht mehr weiter tanzen kann…

Gemälde von Safet Zec

Dieses Bild im Venezia Pavillon haute mich emotional um

Henning gar nicht. Er hatte nicht einmal Lust, sich das Bild länger anzuschauen. Henning berührte die Ausstellung im (Ex)Jugoslawien Pavillon, die Fremdheit in Europa zeigte.

Freudig berührte mich das Ausstellungsobjekt von Erick Meyenberg: ein weißer Tisch mit weißer Tonkunst und einem Stuhl mit unzähligen abgebrannten Kerzen und einer Videoinstallation, die Naturbilder zeigte und Menschen. Das war so schön gemacht, weil sich für mich Fremdheit und miteinander Einssein bei einem gemeinsamen Mahl ergänzten.

Anders der „Götter des Olymps“ – Tisch auf der Seine mitten in Paris als Zitat des letzten Abendmahls von Leonardo da Vinci zur Eröffnung der Olympischen Spiele dieses Jahr (Künstlerischer Leiter: Thomas Jolly). Da war mir alles fremd und es fehlte mir der Bezug zum Thema Sport. Ich verstand die sicher nicht zufällig gewählte Assoziation der queeren Menschengruppierung zum Letzten Abendmahl nicht, außer vielleicht als pure Provokation. Insofern also doch Dialog-Kunst, weil es nicht nur mich, sondern unüberraschend viele Menschen unangenehm berührt hat, ja fast wütend machte. Wieso eigentlich und wieso findet man das Video davon nun nicht mehr im Internet?

Eröffnungsperformance der Olympischen Spiele 2024 in Paris als Letztes Abendmahl – Künstlerischer Leiter Thomas Jolly

Darf Kunst den sportlichen Wettkampf zum gesellschaftlichen Wettkampf benützen oder vielleicht sogar missbrauchen?


Um zurückzukommen zur Biennale, denn dort hat es mich persönlich fast zu Tränen gerührt und zu der Entscheidung gebracht, diesen Blogbeitrag mit meiner Ehefrau zu schreiben. Die Menschen, die keine Chance haben, sich für die Freiheit entscheiden zu können, kämpfen für ein Grundrecht, welches ihnen von anderen geraubt wird. Andere entscheiden darüber, wo und wie sie leben sollen und dürfen. Wann und ob sie etwas zu essen oder zu trinken bekommen. Wen sie wählen sollen oder vielleicht auch dürfen. Wobei diese Wahlen meistens kaum demokratisch sind, und anders ausgehen als von den WählerInnen gehofft. Es gibt noch viele andere Gründe, warum diese Menschen sich nicht für die Freiheit entscheiden können. Daran gibt es keinen Zweifel.

liebe dich zu tiefst und akzeptiere – Installation von Manal al Dowayan

Sie, die diesen Artikel lesen, haben aber vermutlich die Möglichkeit, sich für die Freiheit zu entscheiden. Und jetzt kommt mein persönlicher Appell an Sie, der mir so sehr bewusstwurde, als ich die Darstellungen der anderen Menschen gesehen habe:

Nutzen Sie Ihre Chance, der freien Entscheidung

Sie haben es in der Hand, sich aus Verbindungen zu lösen, die Ihnen nicht guttun. Es ist sogar, meiner Meinung nach, Ihre/unsere Pflicht, dies zu tun. Denn wer, wenn nicht wir, müssen uns sogar dafür entscheiden. Für unser Leben, für das unserer Kinder, für das unserer Angehörigen und vor allem auch für die Menschen, die keine Chance auf Freiheit haben. Denn, wenn wir Freiheit nicht vorleben, wird sich auch nichts ändern. Wir leben meistens in einer – zumindest halbwegs – liberalen Demokratie, die per Gesetz die Möglichkeit der Freiheit bereithält.

Es ist mir wichtig, dass Sie die Entscheidung für Ihre Freiheit in Anspruch nehmen

Mit all den Konsequenzen, mit all den vermeintlichen Hürden. Bitte setzen Sie Ihre Möglichkeit ins Verhältnis der Menschen, die es nicht können. Wenn Sie dabei Unterstützung benötigen, melden Sie sich bei uns. Aber nur dann, wenn Sie es wirklich von ganzem Herzen wollen. Auch mit den Herausforderungen die vielleicht kommen werden. Am Ende, und das kann ich Ihnen garantieren, wird es für Sie besser sein als zuvor. Denn, wenn es anders wäre, würden Sie vielleicht nicht darüber nachdenken, wie Sie in Ihre Freiheit kommen. Sollten Sie dort sein, herzlichen Glückwunsch. Sie sind vielen anderen Menschen nicht nur einen, sondern gleich viele Schritte voraus.


Kunst braucht eine Bühne

Insbesondere Auftragskunst, sonst ergibt sie so gar keinen Sinn. Ich kann Kunst auch nur für mich machen, im stillen Kämmerlein, nach dem Motto: Stell‘ dir vor, ich mache Kunst und keiner weiß es. Wenn mich dann und nur mich meine Kunst berührt, bin ich auch im Dialog. Halt nur mit mir selbst und wen juckt‘ s?!?

Wenn Kunst ein Auditorium zur Verfügung gestellt wird und ein bestimmtes Thema umgesetzt werden soll, hat Kunst dann die Freiheit, ungeachtet der Öffentlichkeit, zu machen, was sie will?

Kann Kunst versagen?

Im Falle der Eröffnungsperformance bei den Olympischen Spielen in Paris hat sie das, meiner Meinung nach, oder auch nicht. Wenn der Auftrag der Künstler war, verstört alle, hat sie nicht versagt. Wenn der Auftrag war, zeigt der Welt, dass queere Menschen ein neues Miteinander, in der alle Platz haben, auch Heteros, hat sie versagt. Denn Ausschluss ist nicht Gemeinschaft.

Wer christlich ist und den Sinn des letzten Abendmahls kennt, weiß, was danach am Ölberg passierte.

Wenn das Letzte Abendmahl bei den Olympischen Spielen ein Auftakt zu unfairen Kämpfen sein sollte – wo Männer als Frauen gegen Frauen boxen und sie k.o. schlagen – könnte es auch als Kritik am Reglement der Olympischen Spiele gedeutet werden.

Kunst will verstanden sein

Natürlich habe auch ich als Betrachterin (und studierte Kunsthistorikerin) Freiheit in der Kritik. Ich betrachte etwas und kreiere im Grunde dadurch schon wieder etwas Neues. Somit ist Kunst, ob sie will oder nicht, ein Dialog.

Kunst ohne Aussage, die keinen Anspruch hat, verstanden werden zu wollen, ist arrogant. Sie genügt sich selbst, ist reiner Selbstzweck. Sie nimmt sich selbst die Chance, (andere) zu berühren. Das macht sie hohl und leer und sinnlos. Es ist narzisstische Kunst, die nur um sich selbst kreist, ohne Dialog mit jenen, die davorstehen und irritiert sind oder sich nicht angesprochen fühlen.

Wozu macht sich Kunst überhaupt die Mühe, wenn es ihr nicht um Verständnis ginge?

Vielleicht ist das assozierte Zitat des Letzten Abendmahls bei den Olympischen Spielen nur ein Missverständnis. Vielleicht habe ich auch das Bild mit der Mutter und dem toten Kind missverstanden. Vielleicht lacht die Mutter und dem Kind ist nach einem Badetag einfach nur kalt. Deshalb der blaue Schuh, der ist in Wahrheit ein Plastikschuh. Die Bildbeschreibung des Künstlers Safet Zec sagt allerdings etwas anderes aus. Ich habe also mit meiner Berühtheit die Aussage seines Bildes verstanden. Durch sein Werk und meine Tränen geschah Dialog – Berührung.

Der Künstlerische Leiter Thomas Jolly beschreibt (oder rechtfertigt?) seine „Götter des Olymp“ – Performance bei den Olympischen Spielen in Paris 2024 wie folgt:

„Unser Ziel war die Inklusion. Ich habe mich auf die künstlerische Freiheit berufen. Mein Ziel ist es nicht, subversiv zu sein oder mich über Dinge lustig zu machen oder zu schockieren. Ich wollte einfach zeigen, dass es ein großes ‚Wir› gibt.“ (Quelle: watson)

Damit wurde das Thema verfehlt oder falsch interpretiert und die große Chance verpasst, auf der Weltbühne der Olympischen Spiele mitten in Paris zu zeigen, dass queere Menschen das Zeug dazu haben, die Welt und unser soziales Miteinander verändern zu wollen.

Stattdessen postuliert sie eine weitere narzisstische Blase unserer Gesellschaft, die ein wirkliches Wir bis auf Weiteres unmöglich macht. Schade.

Weitere Blogbeiträge von Regina Schrott zum Thema Gesellschaft und Kunst finden Sie hier:

Leben Sie schon oder echoisten Sie noch?

Klar bin ich mit einem Narzissten zusammen

Macht Toxik schön?

Weitere Blogbeiträge von Henning Glasmacher über Freiheit und Narzissmus finden Sie hier:

Freiheit und Narzissmus

Mein Narz und ich


1 Kommentar

Julia · 12. August 2024 um 18:48

Danke,dass ihr eure persönlichen und schön eigensinnigen Erfahrungen auf der Biennale geteilt habt,
ebenso die Erinnerung daran, unsere Freiheit als gar nicht selbstverständliches Geschenk zu schätzen und zu nutzen, ist Mahnung und Ermutigung.
Da ich diesmal nicht mit euch in Venedig dabei sein konnte, freue ich mich, ein bisschen reinzuschnuppern, wie ihr euch jeweils von der Kunst berühren und auch befremden habt lassen!

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