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An einem Abend in Berlin

von Michael G. – Februar 2006. Ich war 19.

Mutter und ich planten einen zwei Tage Aufenthalt in Berlin.
Anlass war meine Aufnahmeprüfung an der Universität der Künste
für den Studiengang Schauspiel.

Überraschenderweise bot Mutter direkt an, mich mit dem Auto nach Berlin fahren zu
wollen, ich wäre sonst natürlich alleine Bahn gefahren, es hätte nur zwei Stunden
gedauert. Aber sie bestand darauf für uns ein Appartement für eine Nacht zu mieten.

Also gut. Ich war etwas erstaunt darüber, dass sie sich den Stadtverkehr in Berlin
zumuten wollte, da sie in der Großstadt manchmal Panik am Steuer bekam.
Was auch dazu führte, dass ich als Kind zügig lernte auf dem
Beifahrersitz einen ADAC Atlas zu lesen.

Bevor wir losfuhren, tat ich etwas Unüberlegtes. Ich schrieb am Computer meiner
Mutter und warf einen kurzen Blick in ihre E-Mails. Ich fand dort Nachrichten von
der Internet-Bekanntschaft, die sie in Berlin treffen würde. Dieser Mann schrieb
Sachen wie „Befriedigst du dich selbst? Wenn ja, darf ich dann zuschauen?“ oder
„Gehst du in Swingerclubs? Ich kenne da einen.“ Ich überflog drei oder vier Sätze
und ging vom Bildschirm weg. Zu viel Information.

Ich hatte ja selbst schuld, warum schaute ich auch in ihren Posteingang.

Der Hauptanlass war zwar meine Aufnahmeprüfung, aber ich dachte mir schon, es
kam ihr sehr gelegen das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.

Meine Mutter ist eine erwachsene Frau und kann tun und lassen, was sie will.
Aber einige Sachen will ich einfach nicht wissen. Und dennoch habe ich sie erfahren
müssen. Ich denke an die Nächte in meiner Kindheit, in denen in wach lag,
weil meine Mutter unten im Wohnzimmer in ihrer Sex-Ekstase
mit meinem Vater die Nachbarn aus dem Schlaf riss.
Meinen Vater hörte ich nie, sie aber umso lauter.

Ich war froh, dass mir zumindest der Anblick erspart blieb.
Und ich war, Gott sei Dank, zu jung für ein Kopf-Kino.
In ihrem Rausch konnte sie Minuten lang schreien, oh ja, das konnte sie.
Mit Vorliebe den Namen ihres Sexualpartners und welcher Körperteil sich gerade in
welcher Öffnung befand. Ich dachte mir also als Kind, schalten Menschen beim Sex
komplett ihr Hirn aus, dass sie dermaßen ihre Umgebung vergessen?

Ich lag derweil im Bett, versuchte verzweifelt mir ein Kissen auf die Ohren zu
drücken und mein Puls war zu schnell zum Einschlafen.
Es war etwas lustig sowie tief beschämend.

An einem Abend, als sie wieder zugange war, musste ich dringend auf die Toilette.
Ich hatte aber so große Panik mein Zimmer zu verlassen und Angst, sie würden mich
auf dem Flur hören, dass ich aus meinem Dachfenster pinkelte.
Ich kann mich nur an ungefähr fünf solcher Nächte erinnern.

Als ich 6 Jahre alt war und ich im Bett meiner Eltern übernachten durfte, weil diese
zum Tanzen aus waren, wurde ich nachts wach und meine Eltern lagen neben mir.
Von den Geräuschen her dachte ich, mein Vater gäbe meiner Mutter eine Fußmassage,
ich konnte das Stöhnen nicht zuordnen. Als ich mich kurz umdrehte waren
beide nackt. Ich erschrak und versuchte mich schlafend zu stellen. Warum nahmen sie
nicht die Couch? Oder schickten mich in mein Bett?

Kaum ein Jahr später müsste ihre Scheidung gewesen sein.

Nicht lange nach der Scheidung hatte Mutter ihre neuen Lebensgefährten, ungefähr jedes Jahr jemand neues, und 3 von denen zogen auch in unser Haus. Mutter war abends öfter bei ihrem neuen Freund und ich blieb zu Hause, was ich ok fand. Ich durfte mir dann vorher meistens einen Film aus der Videothek ausleihen, machte mir eine Tiefkühlpizza und hatte meine Ruhe. Das ging einige Jahre so. Manchmal hatte ich Angst im leeren Haus.

Einmal kam ich von der Klassenfahrt nach Hause und sah, dass meine Mutter
offensichtlich mein Bett benutzt hatte. Für den Beischlaf mit einem neuen Liebhaber.
Die Überdecke war unordentlich und eine Schraube am Bettgestell war lose.
Unsere Nachbarin, mit dessen Tochter ich befreundet war, konnte mir diesen
Beischlaf bestätigen, es muss sehr laut gewesen sein. Es war mir überaus peinlich und
ich entschuldigte mich bei der Nachbarin.

An einem anderen Tag, ich war vielleicht 15, fand ich pornografische Fotos, die ein
Liebhaber von ihr gemacht haben musste. Sie lagen ganz und gar nicht gut versteckt
im offenen Flurschrank. Ich war sprachlos. Kurz nachdem ich realisierte, was das für
Fotos waren, legte ich sie wieder zurück. Sie sahen aus wie groteske Beweisfotos von
einem Unfall. Den Mann sah man nicht. Aber die Vagina meiner Mutter wurde so nah
fotografiert, als wären es Aufnahmen für ein gynäkologisches Lehrbuch gewesen.

Am meisten verwunderte mich, dass sie wohl mit einem ganz gewöhnlichen
Fotoapparat gemacht wurden und es keine Polaroids waren. Wie Urlaubsfotos wurden
sie anscheinend in einem Fotoladen abgegeben und entwickelt.
An einem Morgen, ungefähr in derselben Zeit, als ich mich für die Schule fertig
machen wollte, lag ihr goldener Vibrator auf dem Couchtisch und Mutter selbst lag
verkatert daneben auf der ausgezogenen Couch. So lange schlief sie gewöhnlich nie.
Ich vermute, in der Nacht zuvor waren die Bilder entstanden.
Den Vibrator bewahrte sie anschließend zwischen der Bettwäsche auf.

Für Berlin hatte Mutter ein Zwei-Zimmer-Appartement an der Prenzlauer Allee gemietet.
Es war erst Mittag, also gingen wir etwas essen und Berlin-Mitte erkunden.
Irgendwo am Brandenburger Tor entschieden wir uns für einen Chinesen.
Ich hielt es nicht für nötig, mich zuvor eingehend mit dem Berliner Stadtplan und
dem öffentlichen Verkehrssystem auseinander zu setzen, da ich glaubte, mich in jeder
Großstadt ziemlich gut zurecht finden zu können. Was ich auch tue.

Alleine zumindest. Ich wusste, wo unser Appartement ist, wo die Aufnahmeprüfung sein
würde und alles Weitere könne man spontan mit entscheiden.
Berlin ist doch etwas komplexer als Hamburg, das weiß ich nun.
Obwohl wir das ein oder andere Mal nicht genau wussten, wo es lang ging, wäre es
noch längst nicht so schweißtreibend gewesen, wenn Mutter mir nicht ständig im
Nacken gelegen hätte. Wir bogen nur eine Straße zu früh ab und sie klagte bereits, als
hätten wir uns für immer verlaufen. Sie wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen
mitzudenken und zu helfen, immerhin befanden wir uns beide in derselben Situation.

Das Einzige, was ich tun konnte, war durchzuhalten. Meinungsverschiedenheiten
zwischen uns waren alltäglich. Ich versuchte die richtigen Wege zu finden,
mich durchzufragen und Straßenschilder zu beachten,
während Mutter langsam und rauchend hinter mir her lief. Mir aber auch
manchmal mit Absicht so nahe kam, dass sie mir erwartungsvoll im Weg stand und
die Sicht versperrte. Wie ein trotziges Kind. Wir waren gerade mal drei Stunden in Berlin.

Am Abend verkrochen wir uns in unsere Zimmer und ich hatte vor, früh ins Bett zu
gehen, da ich um sieben aufstehen und fit sein wollte für die Aufnahmeprüfung
Ich konnte schlecht einschlafen. Nach einigen Stunden hörte ich ein Rumpeln
vor meiner Tür und Mutter fluchen:

„Ach, Scheiße!“

Ich stand auf und öffnete die Tür, Mutter war gestolpert, sie lag vor meiner Schwelle.
„Oh Gott, hast du dir wehgetan?“ Sie stand auf und humpelte fluchend in die Küche.
Sie hatte bereits eine Flasche Sekt intus. Sie hatte auf Reisen immer eine Flasche Sekt dabei.

***

Am nächsten Morgen wurde Mutter wach während ich Kaffee kochte.
Ich öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und wünschte einen guten Morgen
„Ich glaube, der Fuß ist angeknackst“, sagte sie.
„Musst du zum Arzt?“
Sie verneinte, drehte sich wieder um und versuchte weiterzuschlafen.
Das Prozedere der Aufnahmeprüfung an der Universität der Künste dauerte von
morgens um 9 bis nachmittags um 4 oder 5. Ich kam im Auswahlverfahren leider
keine Runde weiter. Ob ich traurig war, kann ich nicht sagen.

Ich war eher erleichtert, dass all die Anspannung vorbei war.
Vorzubereiten waren vier Monologe, einer davon von Friedrich Hebbel, inklusive
Rollen-Protokoll, ein selbstverfasster Monolog, ein klassischer, ein moderner und ein Lied.

Die Prozesse, die der Körper an solch einem Tag durchmacht, sind absurd.
Man ist abwechselnd aufgeregt, überspannt, nervös, ruhelos, ungeduldig, hektisch
erregt, wach, müde, abgespannt. Man kann nicht viel essen, obwohl man besser
sollte. Man trinkt zu viel Kaffee, raucht zu viel. Man muss ständig pinkeln.

Hauptsache vorbereitet bleiben, nach außen hin die Form wahren.
Durchlässig bleiben, sich ruhig verhalten. Konzentriert und locker zu bleiben.
Ich wollte mein Bestes geben. Es ging um meine Zukunft. Ich hatte es zumindest versucht.
Es war dunkel, als ich wieder am Appartement ankam. Ich hatte Mutter bereits eine
SMS geschickt, so wusste sie das Ergebnis der Prüfung.
Sie öffnete die Tür und die Flasche Sekt konnte ich an ihren glasigen Augen ablesen.

Ich sah, wie sie etwas humpelte. Ich glaubte, da ich nicht richtig offenbarte
wie geschafft und fertig ich eigentlich war, zeigte sie auch kein Interesse dafür,
was ich erlebt hatte. Somit dachte sie wohl, ich hätte nur einen langen Stadtbummel
hinter mir gehabt. Ich sagte, ich wolle nur was essen und sie meinte:
„Diese Stadt hat uns wohl kein Glück gebracht.“

Sie schenkte sich und mir ein Glas Sekt ein und wir stießen auf irgendetwas an.
Ich sagte, ich möchte einfach gerne etwas essen und ausruhen, denn wir seien in diese
Stadt bis jetzt ja irgendwie rein gestolpert. Es ging los. Dies schien ihr Stichwort gewesen zu sein.

„Ich bin überhaupt nicht rein gestolpert!“ fauchte sie. „Du hast dich überhaupt nicht
richtig auf diese Stadt vorbereitet! Du hast dir den Stadtplan vorher überhaupt nicht
richtig angeguckt!“ „Ist ja gut!“ sagte ich.
„Ich möchte jetzt bitte nicht darüber reden! Es tut mir Leid,
aber ich bin müde und möchte nur was essen.“
„Ich finde das überhaupt nicht in Ordnung. Ich hätte mich besser vorbereitet. Das kann ich dir sagen.“
„Ich möchte jetzt bitte nicht darüber reden! Bitte!“
„Unmöglich finde ich das!“
„Was willst du denn jetzt von mir?“, fragte ich.

Ich sah meiner Mutter an, irgendwie war ihr
dieses Thema ein gefundenes Fressen

„Ich arbeite rund um die Uhr und buckel mich ab und du hilfst mir kein Stück! Kein Stück hilfst du mir!“
„Mama, ich wohne nicht mehr zu Hause!“
„Gestern sind wir die ganze Zeit herumgerannt. Ich kann auch nicht mehr gut laufen.
Meine Bandscheibe macht mich ganz schön zu schaffen!“
„Es tut mir ja leid! Bitte, lass mich jetzt! Ich will nicht mehr darüber reden!“

Sie war wohl den ganzen Tag im Appartement geblieben und hatte getrunken.
Auf dem Küchentresen sah ich eine leere Sektflasche. Nur der selbstgemachte
Aschenbecher aus Alufolie und sie wussten, ob es bereits die zweite Flasche war.
Sie ging hinter mir ans Fenster und rauchte, danach kam sie wieder und fing mit dem
Thema erneut an.

Sie tat so, als wäre sie in der Küche beschäftigt und fand immer wieder einen neuen
Ansatz, um vollkommen aus dem Zusammenhang zu behaupten, ich hätte sie gestern
aus purer Gehässigkeit eine Art Jakobsweg entlang gescheucht. Ich bettelte sie
gefühlte zwanzig Minuten an, dass sie mich in Ruhe lassen möge, aber ich sprach
gegen eine Wand, es wurde nur noch schlimmer.

„Ich arbeite und mach‘ und tu‘ und was tust du für mich? Wir sind gestern ewig in der
Stadt rum geirrt, bis meine Füße wehtaten. Mensch! Das finde ich unmöglich von dir!“

„Mama, es tut mir ja leid, es war doch nicht meine Absicht! Aber ich möchte.
Jetzt. Bitte. Nicht. Mehr. Darüber. Reden.“
Kurzes Schweigen.
„Warum willst du nicht reden?“, sagte sie gespielt naiv.
„Darum. Bitte! Ich bitte dich! Bitte! Ich flehe dich an, lass mich!“
„Ich finde das unmöglich…“
„ICH WILL JETZT NICHT DRÜBER REEDÄÄÄN!“

Ich schrie, als wollte irgendetwas in mir die Flucht ergreifen. Ich saß in der Küche
und meine Füße hoben sich beim Schreien kurz vom Boden ab. Ich hatte sie zuvor
noch nie so angeschrien, aber sie schien wenig davon beeindruckt.
Ich stand sogleich auf, ging in mein Zimmer, die Tür knallte.

Dass diese Worte dermaßen aus mir wüteten, es war rein physisch. Wie Nasenbluten.
Ich wusste nicht, welche Sprache ich sprechen sollte, um das Ohr dieser Frau zu
erreichen. Ich explodierte kurz, fing mich aber schnell wieder.
Ich erinnerte mich, dass mein Vater fast täglich ausgerastet war, wenn er sich mit ihr
gestritten hatte und ich hatte mich als Kind immer erschrocken. Ich hockte dann oben
am Treppengeländer und war paralysiert von seinem Brüllen.

Mein Vater glich dann einem Amoklaufenden, schlug die Faust auf den Tisch, etwas
ging immer zu Bruch. Mutter lief aufgebracht durch die Wohnung. Das Knallen und
Aufreißen von Türen waren die üblichen Geräusche in meiner Kindheit. Und folgte
darauf eine Stille, lag eine unerträgliche Spannung in der Luft. So war es immer.
Nun glaubte ich etwas zu verstehen, was in meinem Vater damals vorging.
Für einen kurzen Moment hatte ich jenen Geisteszustand erreicht, vor dem ich als
Kind immer Angst hatte.

Als ich die Tür wieder öffnete, saß meine Mutter am Küchentisch und rauchte.
Ich machte den leeren Kühlschrank auf.
Dann ergriff sie das Wort und nahm ihre Brille ab.
Sie sagte in scheinheiliger Ruhe, mit dem Mittelfinger auf dem Tisch in der
Zigarettenasche wischend, ohne mich anzuschauen: „Das werde ich mir übrigens
merken, wie du dich heute hier aufführst.“

Ich sagte: „Ich bin ein erwachsener Mensch, und ich möchte heute Abend einfach
hier in meinem Zimmer bleiben. Ich verstehe nicht, wo das Problem ist. Ich hatte
einen harten Tag hinter mir. Warum kannst du das nicht akzeptieren?“
„Jetzt pass mal auf“, sagte sie bedrohlich und an die Wand blickend, als würde sie mir
eine simple Logik zum hundertsten Mal erklären müssen, „Ich kenne dich besser, als
du es je tun wirst. Und du kannst jetzt auch mal was für mich tun.“

Ich war sprachlos. Aber diesmal anders sprachlos.

Streitigkeiten mit meiner Mutter kamen sehr oft vor, und sie ergaben sich aus ihrer
Sicht stets aus meiner Undankbarkeit.
Aber „Ich kenne dich besser, als du es je tun wirst“?
Der Irrsinn dieser Behauptung und ihr Glaube, ich würde das schlucken, wiesen auf
etwas tieferes hin. Diese Aussage war eine Maxime, eine Überzeugung. Dahinter
stand ein System. Als wäre sie mein Arbeitgeber und würde mich auf meine Rechtslage hinweisen.

Ab da wusste ich, dass ihr Problem nicht nur ihr sogenanntes Temperament war.
Auch wenn ich es mir Jahre später erst so richtig eingestehen würde:

Mutter dachte allen Ernstes, ich sei ihre Puppe.

„Das ist nicht wahr“, sagte ich, „Jeder Mensch ist sich selbst am nächsten und du
kennst dich am besten und ich kenne mich am besten.“

Kurze Stille.

„Ich kann auch nicht mehr“, fuhr sie fort, „ich träume oft von Oma und ich glaube,
sie will mich zu sich holen.“ Nächster Akt, die Mitleids-Arie.
Und sie tat mir auch irgendwie leid. Dieser Ganze aus dem Kontext gerissene
Psycho-Parcour, den sie entlang lief, musste wirklich anstrengend sein.
„Warum? Fühlst du dich krank?“, fragte ich.
„Ich träume von Oma. Ich träume immer öfter von ihr. Sie will mich zu sich holen,
diese Träume kommen immer wieder.“

Sie weinte etwas. Ich gab ihr ein Tuch von der Küchenrolle und hockte mich vor sie
hin, um ihren Blick zu bekommen. Wie man es bei einem traurigen Kind machen würde.
„Aber wenn du von ihr träumst“, meinte ich, „dann heißt das, sie will dir mitteilen,
sie ist bei dir. Du weißt doch, dass sie immer auf dich aufpasst. Sie will dich nicht zu sich holen.
Sie ist nur immer bei dir.“ Mutter schaute zu Boden und ich war mir nicht einmal sicher, ob sie mir zuhörte.

Ich versuchte sie zu umarmen, sie berührte meinen Rücken aber nicht, sondern faltete
hinter mir ihr halb nasses Küchentuch. Sie erwiderte oder kommentierte meine
Umarmung in keiner Weise. Als wäre in ihrem Körper hierfür niemand anwesend. Es
war mir etwas unheimlich und ich ließ wieder von ihr. „Manchmal kann ich auch nicht mehr“, fuhr sie fort.

Sie schnäuzte ins Taschentuch und es war kurz Ruhe.
Ich schlug vor, etwas zu essen zu kaufen. Sie gab mir dafür Geld.

***

Ich kaufte im Supermarkt um die Ecke Tiefkühlpizzen, Chips und eine Flasche Sekt
und stand nach wenigen Minuten wieder am Appartement.

Ich ging die Treppe hinauf und Mutter stand bereits an der Tür, in ihrem Gesicht lag
ein leichtes hämisches Grinsen. Aufgrund des Alkohols konnte sie wohl ihre
Gesichtszüge nicht mehr so gut kontrollieren, sie wirkte, wie ein kleines Mädchen,
das etwas ausgefressen hatte.
„Was ist?“, fragte ich und legte die Einkäufe auf den Küchentisch.
„Nichts.“ Das komische Grinsen verschwand aber nicht aus ihrem Gesicht, als hätte
sie irgendwo eine Überraschung versteckt.
„Irgendwas ist doch, ich kenne dich. Ich kenne das Grinsen da.“
„Nichts ist. Hast du Sekt mitgebracht?“
Sie machte sich über den Sekt und über die Tüte Chips her.
„Irgendwas stimmt nicht. Warum liegt der Koffer auf deinem Bett?“
„Nur so“, sagte sie unbeschwert.
„Ah ja, schon klar.“ Irgendwas war faul.

Aber ich hatte meine Ruhe – wie schön. So schob ich die Pizzen in den Ofen und ging
in mein Zimmer, um Fernsehen zu gucken. Sie gesellte sich mit den Chips zu mir und
wir guckten schweigend irgendeine Sendung. Wir saßen drei Minuten zusammen.
Diese drei Minuten waren die einzigen friedvollen Minuten in unserem Berlin Aufenthalt.

Mutter ging wieder in die Küche und ich folgte ihr, um nach den Pizzen zu schauen.
Sie steckte sich eine Zigarette an und sagte: „Was hast du heute noch vor?“
„Nichts mehr. Ich bin geschafft und will was essen. Ich geh bestimmt früh zu Bett.“
„Du kannst doch ins Theater gehen. Ich geb’ dir dafür Geld.“
„Nein, ich möchte nicht, Danke.“
„Warum denn nicht? Du kennst doch Leute in Berlin, du kannst dich doch mit jemandem treffen.“

„Nein, ich möchte heute nicht mehr weg gehen. Warum willst du, dass ich ausgehe?“
„Aber kannst du doch, ich gebe dir Geld.“
„Ja, aber warum?“, fragte ich, „Ich will nicht. Kriegst du Besuch von diesem Rudi? Ist es das?“
„Ja, vielleicht kommt er vorbei. Du kannst ja auch mal was für mich tun.“
„Aber ich will heute Abend nicht mehr aus der Wohnung raus.
Danke, aber nein danke. Ich möchte nicht.“
„Also das finde ich nicht schön von dir. Ich bezahl dieses Appartement, da kannst du
auch mal was für mich tun.“

„Aber ich möchte nicht. Du hast mich gefragt und ich möchte nicht. Danke. Nein.“
„Das finde ich unmöglich von dir, wirklich.“
Ich sagte entschieden: „Ich werde jetzt garantiert nicht die Wohnung verlassen, nur
weil du ficken willst.“
Gelassen erwiderte sie: „Warum? Das kannst du doch mal für mich tun?“
„Nein, das werde ich nicht tun. Ich glaub’, ich spinne.“
„Unmöglich finde ich das. Unmöglich!“ Sie ging kopfschüttelnd hinter mir ans
Fenster und rauchte.

Ich überlegte kurz, was meine Möglichkeiten waren. Ich wusste, es muss nun eine
Entscheidung getroffen werden und sagte: „Ich habe genug Geld bei mir, um nach
Hause zu fahren. Dann hast du deine Ruhe. Ist es das, was du willst?“
„Ach! So ist das also!“, sagte sie übertrieben erstaunt. Als wäre es von Anfang an
mein geheimes As im Ärmel gewesen, welches ich nur deswegen hinausgezögert
hätte um sie zu ärgern.

Ich wusste, wenn ich jetzt nicht etwas unternähme, würde ich vermutlich aus dem
Fenster springen. Ich ging in mein Zimmer und packte zügig meine Siebensachen.
Sie stand am Fenster, mir den Rücken zugewandt und spielte die beleidigte
Leberwurst. Aber in Gedanken ging sie wohl alle neu erworbenen Möglichkeiten
durch, die ihr an dem Abend noch zur Verfügung stehen würden.

Ich zog meinen Mantel an, nahm meine gepackte Tasche, ging zur Wohnungstür und
machte sie auf.
„Jetzt bist du mich los“, sagte ich und ging ins Treppenhaus.
Mutter kam sogleich aus der Küche, sah mich nicht an, machte die Tür schnell
zwischen uns zu und schloss zweimal ab.

***

Es war dunkel und relativ kalt. Ich ging zum Alexanderplatz.
Ich drehte mich nicht um.
Ich dachte kurz an ihren Fuß. Er tat wohl immer noch weh und das Auto parkte drei
Straßen weiter. Dieser Rudi würde ihr nach dem Beischlaf sicher mit dem Gepäck behilflich sein.

Ich dachte an die Pizzen im Backofen.
Ich versuchte mir eine Moral einzubilden, und es gelang mir nicht.
Gegen Mitternacht kam ich in Hamburg an und eine Freundin holte mich vom
Bahnhof ab. Im Auto begann ich zu erzählen.

“… Und ich sagte ihr immer und immer wieder, ich möchte nicht darüber reden…“
Wie sehr ich meine Mutter um Frieden anbettelte und wie sehr es ihr egal war, das tat
am meisten weh. Ich weinte bitterlich. Die Freundin sah mich hilflos an.

Text von Michael G.

Der Gast Autor dieses Textes, Michael G. wurde zum Glück übrigens dennoch Schauspieler und Musiker. Inspiriert durch die Aufklärungsarbeit von Narz mich nicht® und das gleichnamige Buch von Regina Schrott konzipiert Michael eine mediale Performance über narzisstischen Missbrauch und das seelische Immunsystem in Hamburg. Regina Schrott beriet ihn dazu sowohl fachlich wie künstlerisch sehr gerne.

Vielen Dank auf jeden Fall für eure grandiose Arbeit zu dem Thema und die Bereitschaft Menschen in der Hinsicht zu sensibilisieren. In Deutschland, so scheint es mir, wird narzisstischer Missbrauch noch ziemlich weg rationalisiert.  Vielleicht, weil viele Opfer denken, ihre Geschichte sei nicht erzählenswert. So ging es mir jedenfalls viele Jahre.

Lieben Gruss, Michael

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